Klare und konsequente Maßnahmen – sofort!
Vorbemerkung
In diesen Tagen steht Deutschland vor einer erneuten, verschärften Eskalation der Covid-19-Krise. Es ist zu befürchten, dass Teile der Politik und Öffentlichkeit die Dramatik der Situation nicht in ihrem vollen Ausmaß erfassen. Dazu tragen die Vielstimmigkeit der öffentlich vorgebrachten Einschätzungen von Fakten und Prognosen, ein gewisser Gewöhnungseffekt und wohl auch das für viele „bloß“ statis- tische „Angesicht“ der Todesopfer und der Langzeitgeschädigten von Covid-19 bei. Die Autorinnen und Autoren dieser Ad-hoc-Stellungnahme sind einzeln und gemeinsam nach bestem Wissen der Auffassung, dass hier ein sofortiges Gegensteuern dringend erforderlich ist.
Kritische Lage
Die Wissenschaft konnte die Kenntnisse über das SARS-CoV-2-Virus und über die medizinischen, öko- nomischen und sozialen Folgen der Pandemie in den vergangenen Monaten zwar deutlich erweitern. Auch stehen, anders als im vergangenen Winter, mit Schnelltests, FFP2-Masken und vor allem mit Impfstoffen mehr und bessere „Werkzeuge“ zur Eindämmung der Virusverbreitung zur Verfügung. Dennoch haben die Ausbreitung der hochansteckenden Delta-Variante, die deutlich zu niedrige Impf- quote, nachlassende Immunität auch nach zweimaliger Impfung, und die nicht ausreichend stringen- ten Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie dazu geführt, dass der bevorstehende Corona-Winter für Deutschland erneut zu einer massiven gesellschaftlichen Herausforderung wird. Um den weiteren Anstieg der Todesfälle im Zusammenhang mit Covid-19-Infektionen und eine Unterversorgung auch anderer Schwerstkranker durch Überlastung der Krankenhäuser aufzuhalten, müssen schnellstmöglich klare und stringente Maßnahmen nach einheitlichen Kriterien ergriffen werden. Das Auftreten neuer Virusvarianten – wie z.B. aktuell der Omikron-Variante –, die infektiöser sein könnten, macht ein schnelles und konsequentes Handeln noch dringlicher.
Das Hauptproblem in Deutschland besteht in der viel zu hohen Zahl noch ungeimpfter Menschen. Dies zeigen Vergleiche mit anderen Ländern, die bisher die Ansteckungsraten durch konsequentes Impfen haben flacher halten können, sowie die entsprechende Modellierung des Robert Koch-Instituts vom Juli 2021
1. Ungeimpfte sind in einen Großteil der Neuinfektionen (ca. 8-9 von 10 Ansteckungen) involviert.
2. Hinzu kommt – wie neuere Erkenntnisse immer deutlicher belegen –, dass auch bei Geimpften der Impfschutz vor Infektion bereits nach wenigen Monaten abnimmt. Dadurch steigt die Wahrscheinlichkeit einer Infektion, einer Erkrankung sowie eines schweren Krankheitsverlaufs, der einen Krankenhausaufenthalt notwendig macht. Zu ihrer Verhinderung ist eine Auffrischungsimpfung, der sogenannte Booster, unbedingt erforderlich.
Empfohlene Maßnahmen
(1) Massive Verstärkung der Impfkampagne und Einführung einer stufenweisen Impfpflicht
Um die hohen Coronavirus-Infektionszahlen in der Bevölkerung deutlich zu verringern, sind ungeimpfte Personen so schnell wie möglich zu impfen. Dazu müssen Ungeimpfte motiviert oder in die Pflicht genommen werden. Zudem ist es erforderlich, dass „vollständig Geimpfte“ möglichst nach 5-6 Monaten eine Auffrischungsimpfung erhalten, damit sie weiterhin als „vollständig geimpft“ gelten können. Insgesamt sollten bis Weihnachten neben Erst- und Zweitimpfungen rund 30 Millionen Drittimpfungen ermöglicht werden.
Vulnerable Gruppen wie kranke oder betagte Personen müssen effektiver als bisher geschützt werden. Die professionelle Verantwortung und Vorbildfunktion einschlägiger Berufsgruppen für die Erreichung einer hohen Durchimpfungsrate muss betont werden. Zu empfehlen sind:
- die Einbeziehung anderer medizinischer Berufsgruppen in die Impftätigkeit (Apotheker, Amtsärzte, Zahnärzte, Pflegekräfte und Hebammen), ggf. mit fachlicher und logistischer Unterstützung der Bundeswehr, des THW und anderer anerkannter privater Hilfsorganisationen in der Katastrophenvorsorge;
- die flächendeckende Wiedereinrichtung von Impfzentren mit langen Öffnungszeiten;
- eine weitere Verstärkung „aufsuchender Impfangebote” an Orten mit hohem Personenaufkommen (z.B. Bahnhöfe, Ämter, Einkaufszentren), an sozialen Brennpunkten, in Seniorenheimen sowie für Personen, die sich vornehmlich im häuslichen Bereich aufhalten;
- die rasche Einführung einer berufsbezogenen Impfpflicht für Ärztinnen und Ärzte, Pflegekräfte und medizinische Fachberufe sowie weiterer Multiplikatorengruppen;
- die Vorbereitung zur Einführung einer allgemeinen Impfpflicht unter Berücksichtigung der dafür erforderlichen rechtlichen und sozialen Rahmenbedingungen.
(2) Deutliche Kontaktreduktionen
Über die mittel- und langfristig wirksame Erhöhung der Impfquote hinaus ist es dringend notwendig, zusätzliche sofort wirkende Maßnahmen umzusetzen. Zur Eindämmung des Infektionsgeschehens bieten sich zwei Optionen an – mit deutlich unterschiedlichen Erfolgsaussichten:
Option 1: Sofortige umfassende Kontaktbeschränkungen, zumindest in Regionen mit hoher Inzidenz
Unmittelbar wirksam ist es aus medizinischer und epidemiologischer Sicht, die Kontakte von Beginn der kommenden Woche an für wenige Wochen deutlich zu reduzieren. Aufgrund der nachlassenden Immunität müssten diese Maßnahmen vorübergehend auch für Geimpfte und Genesene gelten, die in dieser Zeit eine Auffrischungsimpfung erhalten müssen. Zu erwägen wären folgende Maßnahmen:
Strikte Kontaktreduktion im privaten Bereich, in Innenräumen und in Situationen, in denen viele Menschen zusammenkommen (z.B. Bars, Clubs, Veranstaltungen).
Wo sich persönliche Kontakte nicht vermeiden lassen, ist eine generelle Maskenpflicht – ideal- erweise mit FFP2-Masken – sowie eine konsequente Durchsetzung der 2G-Regeln und Anwendung der AHA+L-Regeln unvermeidlich. Diese Option würde bei stringenter Umsetzung den exponentiellen Anstieg der Neuinfektionen in der 4. Welle beenden und somit auch der Überlastung des Gesundheitssystems entgegenwirken.
Option 2: Strikte, kontrollierte und sanktionierte 2G-Regelung
Eine konsequente Durchsetzung der 2G-Regeln kann ebenfalls ein wirksames Mittel zur Zurückdrän- gung des Infektionsgeschehens sein. Dies wird allerdings weniger effektiv als Option 1 sein, weshalb mit einem längeren Verlauf der 4. Welle und einer erhöhten Zahl von Todesopfern gerechnet werden muss. Auch hier muss die Zeit für eine massive Erstimpfungskampagne und Auffrischungsimpfungen genutzt werden. In diesem Sinne sollten folgende Maßnahmen umgesetzt werden:
- Streng kontrollierte 2G-Regelung und eine Anwendung der AHA+L-Regeln in öffentlich zugänglichen Innenräumen und bei Veranstaltungen, mit Ausnahme von Räumlichkeiten lebensnotwendiger Infrastrukturen (Supermärkte, Arztpraxen etc.). Wenn eine Einhaltung der 2G-Re geln nicht garantiert werden kann, müssen Veranstaltungen abgesagt werden;
- Generelle Maskenpflicht mit FFP2-Masken in für die Öffentlichkeit zugänglichen Innenräumen auch unter 2G-Regeln;
- Kontaktbeschränkungen für Ungeimpfte, auch im Privatbereich.
(3) Berücksichtigung der besonderen Situation von Kindern und Jugendlichen:
Bei Kindern und vielen Jugendlichen ist das Virus stark verbreitet4. Generell muss betont werden, dass es vorrangig den Erwachsenen obliegt, sich und andere durch eigenes Impfen vor Schaden zu schützen. Aber selbst wenn jüngere Kinder im Vergleich zu Erwachsenen nur selten schwer erkranken, lassen die hohen Inzidenzen auch unter ihnen die Fälle von schwereren Erkrankungen zunehmen. Zudem trägt die Zahl der Infektionen in der Gruppe der Kinder und Jugendlichen zum Infektionsgeschehen bei. Von den entsprechenden Folgen in Familie und Gesellschaft sind Kinder wiederum indirekt schwer betroffen, etwa wenn nahe Angehörige erkranken oder versterben, ihr soziales Leben aufgrund eines Lockdowns drastisch eingeschränkt wird oder erneut Schulen und Kitas geschlossen werden müssen. Unter Berücksichtigung der aufgeführten direkten und indirekten Folgen ist eine Impfung von Kindern und Jugendlichen ab fünf Jahren mit einem geeigneten Impfstoff zu empfehlen5. Zudem sollten folgende Maßnahmen ergriffen werden:
- eine ausnahmslose Maskenpflicht für Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler aller Klassenstufen während des gesamten Aufenthalts in den Schulgebäuden;
- regelmäßige Tests (mind. 3x wöchentlich) zur frühen Erkennung und Vermeidung von Übertragungen;
- ein Vorziehen der Weihnachtsferien.
Eine Aussetzung der Präsenzpflicht und ein Wechselunterricht an Schulen sowie die Schließung von Kitas sollten möglichst vermieden werden. Aktuelle rechtliche Rahmenbedingungen Die jüngste Novellierung des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) und das Auslaufen der „epidemischen Lage nationaler Tragweite“ haben erhebliche rechtliche Änderungen für die Maßnahmen zur Pandmiebekämpfung bewirkt. Problematisch ist dabei, dass auch bei extrem hohen Inzidenzwerten und Hospitalisierungsraten bestimmte generelle Maßnahmen nicht mehr ergriffen werden dürfen. Dies gilt für die flächendeckende Untersagung von Veranstaltungen, Ansammlungen, Aufzügen, Versammlungen sowie religiösen oder weltan-schaulichen Zusammenkünften, Reisen, Übernachtungsangeboten (Hotels), Gastronomie sowie von Betrieben, Gewerben, Einzel- oder Großhandel und anderem.
zwar eingriffsintensiven, aber schnell umsetzbaren und effektiven Maßnahmen zur Pandemiebekämp- fung werden erst wieder möglich, wenn das Gesetz in dem Sinne geändert wird, dass diese Maßnah- men wieder generell zur Verfügung stehen, oder der Bundestag erneut die epidemische Lage nationa- ler Tragweite erklärt. Tut der Bundestag das nicht, enden viele Maßnahmen der Pandemiebekämpfung nach dem IfSG am 19.3.2022. Der Bundestag kann diese Frist durch einen Beschluss einmalig um drei Monate verlängern.
Das schwerwiegendste Defizit des novellierten IfSG besteht darin, dass keine Kriterien (Inzidenzwerte o.ä.) mehr aufgeführt sind, wann die Länder bestimmte Maßnahmen ergreifen dürfen oder müssen. Vor diesem Hintergrund bleibt für eine bundesweite Koordinierung von Maßnahmen nur die Möglich- keit politischer Absprachen im Rahmen der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK).
Wertfragen
Dass die gerade anstehenden Entscheidungen sehr komplexe und mit manchen Unsicherheiten behaf- tete Abwägungen zwischen Freiheitsansprüchen und Schutz vor schweren Covid-19-Erkrankungen bzw. vor anderweitiger Unterbehandlung aufwerfen, ist allgemein bekannt und viel diskutiert. Auch dass es dabei um facettenreiche Individualfreiheiten geht – zum einen auf unbeschränkte soziale, kul- turelle, touristische oder wirtschaftliche Begegnungen und Interaktionen, zum anderen auf persönli- che und elterliche Entscheidungshoheit in Impffragen. Offenkundig ist auch, dass der gesellschaftlich realisierte Grad des Impfschutzes ein Kollektivgut ist, von dem alle Individuen, auch die Impfverweige- rer profitieren, das sich aber nur gemeinschaftlich verwirklichen lässt. Und schließlich sind dabei zeit- liche Dimensionen, besondere Verletzlichkeiten, etwa von Kindern und Jugendlichen, und besondere Rollenverantwortungen, wie sie Berufsgruppen in den Bereichen Medizin, Pflege und Erziehung haben, zu berücksichtigen.
Wenn die Unterzeichner dieser Ad-hoc-Stellungnahme vor dem Hintergrund der skizzierten Wertfragen für Freiheitseinschränkungen in Form von Impfpflichten und drastischeren Kontaktbeschränkungen plädieren, dann geschieht dies in der Überzeugung, dass die hierzu führenden Abwägungen im Einklang mit Grundwerten und Prioritäten stehen, die von der Mehrheit der Bevölkerung mit guten Gründen geteilt werden. Auch die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht ist unter den aktuellen, vor einem Jahr so nicht vorhersehbaren Umständen ethisch und rechtlich gerechtfertigt: als letzte Maßnahme, um eine Impflücke zu schließen, die sich augenscheinlich anders nicht beheben lässt. Nur so können die Bürgerinnen und Bürger unserer Gesellschaft vor weiteren desaströsen Folgen bewahrt werden.
Autorinnen und Autoren
Prof. Dr. Christian Drosten ML, Direktor des Instituts für Virologie, Charité-Universitätsmedizin Berlin
Prof. Dr. Jutta Gärtner ML, Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsmedizin Göttingen
Prof. Dr. Michael Hallek ML, Direktor der Klinik I für Innere Medizin mit den Schwerpunkten Onkologie, Hämatologie, Klinische Infektiologie, Klinische Immunologie, Hämostaseologie und Internistische In- tensivmedizin an der Universität zu Köln
Prof. Dr. Gerald Haug ML, Präsident der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina und Max-Planck-Institut für Chemie, Mainz
Prof. Dr. Stefan Huster ML, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Sozial- und Gesundheitsrecht und Rechts- philosophie, Ruhr-Universität Bochum
Prof. Dr. Thomas Krieg ML, Vizepräsident der Leopoldina; Medizinische Fakultät, Universität zu Köln Prof. Dr. Heyo K. Kroemer ML, Vorstandsvorsitzender der Charité-Universitätsmedizin Berlin
Prof. Dr. Marco Prinz ML, Ärztlicher Direktor, Institut für Neuropathologie, Universitätsklinikum Frei- burg
Prof. Dr. Bettina Schöne-Seifert ML, Lehrstuhl für Medizinethik, Institut für Ethik, Geschichte und The- orie der Medizin, Universität Münster
Prof. Dr. Robert Thimme ML, Ärztlicher Direktor, Klinik für Innere Medizin II, Gastroenterologie, Hepa- tologie, Endokrinologie und Infektiologie, Universitätsklinikum Freiburg
Prof. Dr. Claudia Wiesemann ML, Direktorin des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin, Uni- versitätsmedizin Göttingen
Prof. Dr. Barbara Wollenberg ML, Direktorin der Klinik und Poliklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheil- kunde, Klinikum rechts der Isar München