Interview mit Richard Neher von der Universität Basel über die Evolution des Coronavirus
27. Januar 2021 – Seit Wochen häufen sich Berichte über neue Varianten des Coronavirus Sars-CoV-2. Richard Neher erforscht die Evolution von Viren und Bakterien am Biozentrum der Universität Basel. Von 2011 bis 2017 war er Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie in Tübingen.
Herr Prof. Neher, Coronaviren galten bisher als vergleichsweise stabile Gruppe. Wie kommt es, dass nun vermehrt Varianten auftreten?
Sars-CoV-2 mutiert zwar weniger schnell als Grippeviren oder HIV, aber die Unterschiede sind nicht groß. Die dabei entstehenden genetischen Linien ermöglichen es uns, die Ausbreitungswege des Virus zu rekonstruieren. Bis vor kurzem gab es aber wenige Hinweise darauf, dass diese Mutationen die Eigenschaften des Virus stark verändern.
Nun hat sich gezeigt, dass sich manche Varianten schneller verbreiten als andere. Vorläufige Resultate aus Zellkulturen deuten zudem darauf hin, dass Antikörper manche Virenstämme schlechter erkennen können. Ob sich das tatsächlich auf die Immunität auswirkt, wissen wir aber noch nicht.
Neu ist auch, dass in manchen Varianten gleich fünf, zehn oder mehr Mutationen auf einmal auftauchen. Das hätte ich so nicht erwartet.
Wie erklären Sie sich die schnelle Evolution?
Es könnte ein Hinweis auf einen steigenden und anhaltenden Selektionsdruck sein. Ein steigender Grad an Immunität in der Bevölkerung begünstigt zum Beispiel Virusvarianten, die der Körperabwehr teilweise entgehen können.
Unter welchen Bedingungen kann ein solcher Selektionsdruck entstehen?
Er kann auf der Ebene eines Individuums oder Population auftreten. Bei Menschen mit geschwächtem Immunsystem beispielsweise, die das Virus nicht effektiv bekämpfen können, hat der Erreger über längere Zeit die Gelegenheit, Neues auszuprobieren. Am Ende bleiben die Varianten übrig, die der Körperabwehr am effektivsten entkommen.
Auch Regionen in denen die erste Welle der Pandemie besonders stark war, wie zum Beispiel Teile Südamerikas und Südafrikas, üben einen starken Selektionsdruck aus, denn viele Menschen dort nach einer Sars-CoV-2 Infektion Immunität entwickelt. Neue Virusvarianten haben hier eventuell einen Vorteil.
In Südafrika und Brasilien arbeiten zudem exzellente Forscherinnen und Forscher, die die Entwicklung des Virus genau verfolgen. So wurden diese bemerkenswerten Varianten früh entdeckt und untersucht. Eventuell gibt es an anderen Orten ähnliche Varianten, von denen wir noch nichts wissen.
Kann es unter diesen Umständen denn Herdenimmunität gegen Sars-CoV-2 geben?
Global vermutlich nicht, aber lokal bei hoher Impfrate vielleicht schon für eine gewisse Zeit. Die Viren ändern sich zu schnell, als dass in der Bevölkerung dauerhaft Herdenimmunität entstehen könnte.
Ist es denn denkbar, dass Covid-19 durch neue Varianten ähnlich hohe Todesraten verursachen könnte wie Sars-CoV, das Ende 2002 im Süden Chinas aufgetreten ist? Schließlich ist das Sars-Virus von damals mit dem heutigen Sars-CoV-2 verwandt.
Es gibt keinen Grund, so etwas zu erwarten. Sars-CoV und Sars-CoV-2 gehen schon seit langer Zeit getrennte Wege und unterscheiden sich deshalb auf genetischer Ebene deutlich voneinander. Diese Unterschiede gehen weit über das Ausmaß an Mutationen hinaus, die wir bisher beobachtet haben. Deshalb ist es meiner Meinung nach sehr unwahrscheinlich, dass Covid-19 ähnliche Todesraten wie Sars-CoV 2002/2003 hervorrufen könnte.
Werden wir uns künftig wie gegen Grippe auch jedes Jahr gegen Corona impfen lassen müssen?
Im Moment sieht es nicht so aus, dass der Impfschutz gegen Sars-CoV-2 so schnell nachlässt wie bei Grippe. Aber ich könnte mir vorstellen, dass man die Impfung alle paar Jahre wieder durch einen angepassten Impfstoff gegen die häufigsten Virusvarianten wird auffrischen müssen.
Interview: Harald Rösch