Wenn die Augen altern, drohen Depression, Vereinsamung und Unsicherheit
Bewohner von Pflegeheimen und Kranke besonders gefährdet
Bonn/Berlin – Durch den Verlust oder die Einschränkung der Sehkraft werden viele Senioren unselbständiger und ihre Lebensqualität verschlechtert sich. Einer australischen Studie zufolge verkürzt sich dadurch auch die Lebenserwartung dramatisch. Früherkennung und eine rechtzeitig einsetzende Behandlung können Abhilfe schaffen. „Vor allem ältere Patienten mit mehreren Erkrankungen und Bewohner von Pflegeheimen bekommen keine ausreichende augenärztliche Betreuung und sind deshalb besonders gefährdet“, sagt Professor Dr. med. Focke Ziemssen, Oberarzt an der Universitäts-Augenklinik in Tübingen. Bei der Fachtagung „Sehen im Alter“ des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes (DBSV) am 27. Juni in Bonn – Bad Godesberg diskutiert er gemeinsam mit anderen Experten, wie Senioren besser betreut und frühzeitig behandelt werden können.
Die aktive Teilnahme am Leben ist gerade für Senioren besonders wichtig. Alltägliche Aufgaben, wie Zeitung lesen, Einkaufen oder Enkelkinder betreuen, trainieren und stimulieren zudem das Gehirn. Doch bei schwindendem Sehvermögen wird die Ausübung solcher Tätigkeiten für die Betroffenen schwer oder gar unmöglich. Wichtig ist dann die Versorgung mit Hilfsmitteln und Reha-Angeboten, doch daran hapert es in Deutschland. Wenn die Kontrastempfindlichkeit der Augen abnimmt, steigt zudem das Risiko zu stürzen. Schon kleine Hindernisse, wie Teppichkanten und Türschwellen, werden zur Falle und verdoppeln das Sturzrisiko.
Augenerkrankungen und Sehbehinderung bedrohen mehr als das Sehen. Die Erfahrung der abnehmenden körperlichen Leistungsfähigkeit und Lebensqualität führt bei vielen Senioren zu Ängsten, Depressionen und Suizidgedanken. „Die psychische Situation der Menschen entspricht nicht selten der von Patienten mit lebensbedrohlichen Erkrankungen wie Krebs oder HIV“, sagt Professor Ziemssen. Viele Senioren fühlen sich ausgeschlossen und geraten dann in eine soziale Isolation.
Oft wird der Begriff Alterserkrankungen vor allem mit Demenz oder Schlaganfall assoziiert, weiß der Experte aus Tübingen. „Aber altersbedingte Makula-Degeneration und Glaukom sind ebenfalls Volkserkrankungen, die sich dramatisch verbreiten.“ Das hat demographische Gründe. Die Zahl der Hundertjährigen hat sich seit 1990 versechsfacht. Das statistische Bundesamt erwartet, dass der Anteil der über 85-Jährigen bis 2050 auf zehn Prozent bei den Frauen und sieben Prozent bei den Männern ansteigt. Parallel steigt auch die Zahl der Augenerkrankungen, die zu Einschränkung oder Verlust des Sehvermögens führen. Über fünf Millionen Deutsche leiden an einem Glaukom oder an einer Makula-Degeneration. Bei frühzeitiger Diagnose und Behandlung wären drei von vier Erblindungen vermeidbar, doch auch daran hapert es in Deutschland. Viele Senioren sind nicht mobil genug, um regelmäßig ihren Augenarzt aufzusuchen. Kommen kognitive Beeinträchtigungen hinzu, wird es noch schwieriger. „Die Situation bei dementen Patienten ist besonders herausfordernd, da diese keine genauen Angaben zu ihrer Sehfunktion machen können“, erklärt Professor Ziemssen. Dann wird die Sehbeeinträchtigung möglicherweise erst spät erkannt.
Für Professor Ziemssen steht fest: „Es gibt einen erheblichen Nachholbedarf für die Früherkennung, Behandlung und Rehabilitation von Augenerkrankungen bei Senioren.“ Man dürfe die Augen nicht vor Versorgungslücken verschließen, so der Experte. „Alle wirksamen Instrumente und innovative Diagnostik stehen zur Verfügung. Jetzt kommt es auf die Vernetzung an.“
Wie das gemeinsame politische Handeln von Medizin, Pflege, Selbsthilfe, Augenoptik und Rehabilitation verbessert werden kann, ist Gegenstand der Pressekonferenz am 27. Juni 2014 in Bonn zur Fachtagung des DBSV „Sehen im Alter“.
Die Fachtagung findet in Kooperation mit der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen (BAGSO) und mit Unterstützung von Aktion Mensch, Bayer HealthCare und der Stiftung Auge statt.