Parodontitis ist mehr als lockere Zähne!
Die Deutsche Gesellschaft für Parodontologie e. V. (DG PARO) nimmt seit knapp 100 Jahren wissenschaftliche und fachliche Aufgaben auf dem Gebiet der Parodontologie wahr, insbesondere die Förderung der Forschung, Aus- und Weiterbildung und der Anwendung parodontologischer Erkenntnisse in der Praxis. Mit ca. 5 500 Mitgliedern ist sie die größte parodontologische Fachgesellschaft Europas.
Aufgrund der Ziele, Aufgaben und fachlichen Kompetenz im Bereich der Parodontologie, möchte die DG PARO zum Referentenentwurf des GKV-FinStG unaufgefordert Stellung nehmen. Wir lehnen die im Gesetzentwurf vorgesehene Wiedereinführung einer Budgetierung aufgrund ihrer fatalen Auswirkungen auf die parodontologische Versorgung ab. Wir fordern aus wissenschaftlicher Sicht mit Nachdruck dazu auf, von diesen Plänen Abstand zu nehmen – mindestens jedoch, die parodontologische Behandlung als präventionsorientierte Versorgung von der geplanten Budgetierung auszunehmen.
Denn Parodontitis ist mehr als lockere Zähne:
- Parodontitis ist eine chronisch entzündliche, nichtübertragbare Erkrankung, die alle Teile des Zahnhalteapparates betrifft und weitgehend irreversible Schäden des Parodonts verursacht. Schätzungen legen nahe, dass in Deutschland ca. 12 Millionen Menschen von einer schweren Form dieser Erkrankung betroffen sind [1].
- Unbehandelt oder unzureichend therapiert führt Parodontitis unweigerlich zu einer Zerstörung der zahntragenden Gewebe und letztendlich dem Verlust von Zähnen. Die Erkrankung ist eine der Hauptursachen für Zahnverlust bei Erwachsenen weltweit [2, 3] und hat damit einen negativen Einfluss auf die Kaufunktion, orale Ästhetik und Lebensqualität der Betroffenen.
- Durch die Erkrankung selbst und den Ersatz von fehlenden Zähnen trägt Parodontitis deshalb in erheblichem Maße zu den Kosten bei, die direkt oder indirekt durch Zahnerkrankungen verursacht werden [4, 5], und verstärkt soziale Ungleichheit [6].
- Außer den lokalen Schäden am Parodont kann Parodontitis auch Auswirkungen auf den gesamten Körper haben und steht in Zusammenhang mit einer Vielzahl von systemischen Erkrankungen, u.a. Diabetes mellitus [7], kardiovaskulären Erkrankungen [8], Schwangerschaftskomplikationen [9] und Demenz [10].
- Ergebnisse einer aktuellen Studie zeigen, dass Menschen mit Parodontitis, die an Covid-19 erkranken, ein signifikant höheres Risiko für schwere Komplikationen (im Verlauf der Infektion) haben [11].
- Schwere Parodontitis verursacht selbst und insbesondere durch die unterschiedlichen Assoziationen zu systemischen Erkrankungen mehr Jahre an Arbeitsunfähigkeit als jede andere Erkrankung des Menschen [12].
Parodontitis kann erfolgreich behandelt werden, wenn es die Rahmenbedingungen zulassen:
- Über viele Jahre haben die Rahmenbedingungen in der PAR-Therapie zu einer deutlichen Unterversorgung in Hinblick auf die Prävalenz der Erkrankung in der deutschen Bevölkerung geführt.
- Der Gemeinsame Bundesausschusses hat erst kürzlich nach langjähriger Abstimmungs- und Bewertungsprozesse am 17.12.2020 eine umfassende Neustrukturierung der Richtlinie zur systematischen Behandlung von Parodontitis und anderer Parodontalerkrankungen (PAR-Richtlinie) beschlossen, die am 01.07.2021 in der Versorgung wirksam wurde.
- Diese Behandlungsstrecke entspricht im Wesentlichen den Therapieempfehlungen der S3-Leitlinie zur Behandlung von Parodontitis Stadium I-III der European Federation of Periodontology (EFP), die 2020 veröffentlicht und 2021 unter großer Beteiligung anderer Fachgesellschaften, Interessensvertretern und Patienten in Deutschland unabhängig von der Behandlungsrichtlinie implementiert wurde [5]. Es gibt zurzeit keinen Bereich in der zahnärztlichen Versorgung, in dem die Behandlungsstrecke in der GKV so konsistent der Evidenz und einer unabhängigen und wissenschaftlichen Nutzenbewertung folgt, wie in der PAR-Therapie.
- Die neue PAR-Therapie umfasst zudem Aspekte, die bisher in der vertragszahnärztlichen Versorgung komplett gefehlt haben: das eingehende Aufklärungs- und Therapiegespräch (sprechende Zahnmedizin) zur Verhaltensbeeinflussung und einen personalisierten Therapieansatz über die risikoadjustierte Betreuung im Rahmen der Unterstützenden Parodontitistherapie.
- Damit ist dieser Versorgungsansatz mittels mehrjähriger Behandlung dieser chronischen Erkrankung ein echter Meilenstein in der Weiterentwicklung zu einer präventionsorientierten Zahnmedizin, dessen Effekt sich bei parodontal erkrankten Menschen nicht nur allein auf die Mundhöhle beschränken wird, sondern auch positive Auswirkungen auf die allgemeine Gesundheit zu erwarten sind. Die die neue PAR-Richtlinie ist ein Leuchtturm, der weit über die Grenzen von Deutschland positiv wahrgenommen wird.
- Die neue PAR-Versorgung befindet sich immer noch ganz am Anfang der Einführungsphase, die über mehrere Jahre bis 2024 geplant ist. In einer budgetierten Gesamtvergütung, die der Referentenentwurf jetzt aber für 2023 und 2024 vorsieht, würde die neue PAR-Versorgungsstrecke komplett ausgebremst werden. Denn mit der neuen PAR-Strecke ist erstmals in der vertragszahnärztlichen Versorgung eine mehrjährige Leistungsstrecke verankert worden. Wesentliche Teile der Leistungen, die bereits jetzt beantragt und genehmigt wurden, werden erst in den Jahren 2023 und 2024 erbracht werden (insb. die Unterstützende Parodontitistherapie). Eine Budgetierung auf Grundlage des Jahres 2022 würde die Erbringung dieser Leistungen verunmöglichen, da diese Leistungen im Budget des Jahres 2022 nicht abgebildet sind. Auch der Beginn der Behandlung neuer Patienten würde aufgrund der Budgetierung nicht möglich sein. Jedwede Form einer suffizienten PAR-Therapie wird dadurch unmittelbar blockiert.
Im Namen unserer Mitglieder und in der Verantwortung für eine gute Versorgung parodontal erkrankter Patientinnen und Patienten setzen wir uns dafür ein, die geplante Budgetierung zur finanziellen Stabilisierung der gesetzlichen Krankenversicherung NICHT einzuführen, mindestens jedoch, diese nicht auf die PAR-Therapie anzuwenden. Andernfalls wird die Versorgung dieser Volkskrankheit nach vielen Jahren des Stillstandes und ersten Fortschritten nach Einführung der neuen Behandlungsstrecke wieder zum Erliegen kommen.
Die geplante Budgetierung geht zu Lasten der Volksgesundheit und wird die GKV mittelfristig mit mehr Kosten belasten, als durch die Einsparung kurzfristig erwartet werden können.