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Gibt es den „freien Willen“ wirklich?

Freier (Wille) als gedacht

Warum sich freier Wille und das bislang wichtigste Gegen-Experiment der Hirnforschung nicht widersprechen müssen, erklärt ein neues Modell von Freiburger Forschern

Wie frei sind wir in unserem Tun? Sind unsere Handlungen schon lange vor der bewussten Entscheidung im Gehirn angelegt? Das Libet-Experiment aus dem Jahr 1984, das diese Schlüsse nahelegt, gilt bis heute als wichtigstes Experiment zum freien Willen. Nun präsentiert ein Team um Wissenschaftler des Universitätsklinikums Freiburg eine alternative Erklärung für das Experiment und stellt damit klar: freier Wille und bisherige neurobiologische Experimente widersprechen sich nicht. Ihre umfassende Erklärung, die durch mehrere Studien der letzten Jahre gestützt ist, stellen sie am 14. Juli 2016 erstmals im Fachjournal Neuroscience & Biobehavioral Reviews vor.

Im Jahr 1984 führte der Physiologe Benjamin Libet ein Experiment durch, das bis heute wegweisend ist für die Hirnforschung zum freien Willen. Die Versuchspersonen sollten eine spontane Handbewegung machen und danach den Moment angeben, in dem sie sich für die Handlung entschieden hatten. Da die Probanden während des Experiments auf eine schnell laufende Uhr sahen, konnten sie den Zeitpunkt der Entscheidung sehr präzise benennen. Dieser lag etwa 200 Millisekunden vor der Bewegung selbst. Die Forscher konnten aber schon eine Sekunde vor der Handbewegung ein spezifisches Hirnsignal messen, das Bereitschaftspotenzial. Dieses begann etwa eine bis 1,5 Sekunden vor der Bewegung, stieg dann an und erreichte mit der Bewegung seinen Höhepunkt. Libet und viele andere interpretierten den Befund so, dass das subjektive Gefühl der freien Willensentscheidung eine Illusion sei, da das Gehirn die Handlung schon weit früher vorbereite.

Hirnsignal erleichtert Entscheidungen, aber löst sie nicht aus  

Nun legen Forscher um Prof. Dr. Stefan Schmidt, Psychologe an der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie des Universitätsklinikums Freiburg, eine alternative Erklärung vor, die mit dem Prinzip des freien Willens in Einklang steht. Anders als bislang sehen sie den Anstieg des Bereitschaftspotenzials nicht als Ursache von Entscheidung und Handlung, sondern als ein Begleitphänomen.

Das frühe Bereitschaftspotential bis etwa 400 bis 500 Millisekunden vor Beginn der Handlung ergibt sich vermutlich aus sehr langsamen Hintergrundschwankungen in der Gehirnaktivität. Schwingen diese langsamen Hirnpotentiale in den negativen Bereich, wird das Gehirn offensichtlich reaktiver: Reaktionszeiten verkürzen sich, die Wahrnehmung wird sensibler. In diesen negativen Phasen entschieden sich die Probanden auch im Libet-Experiment überdurchschnittlich häufig für eine Spontanbewegung, wie die Forscher zeigen konnten.

Da die Versuche im Libet-Experiment in der Regel häufig wiederholt und gemittelt werden, addieren sich diese negativen Schwankungen auf und ergeben so das Bereitschaftspotential. „Wir wissen aus den Experimenten, dass ein negatives Bereitschaftspotenzial Entscheidungen erleichtert, sie aber nicht auslöst. Es ist einer von vielen Einflussfaktoren“, sagt Prof. Schmidt.

Dass das Bereitschaftspotenzial und die Entscheidung weit weniger stark zusammenhängen als bislang gedacht, wiesen die Forscher 2013 nach, indem sie selbst das Libet-Experiment durchführten. Anders als üblich werteten sie jeden experimentellen Durchgang einzeln aus, anstatt bis zu 40 Durchgänge zu mitteln. Es zeigte sich, dass das Hirnsignal in einem Drittel der Durchgänge positiv oder neutral war statt wie erwartet negativ. „Das widerspricht der gängigen Annahme, dass der Anstieg eine direkte Vorbereitung der Handlung ist“, so Prof. Schmidt. All diese Erkenntnisse sind in die von den Wissenschaftlern entwickelte Slow Cortical Potential Sampling Hypothese oder kurz SCP-Hypothese eingeflossen.

Meditationsgeübte können Handlungsimpuls kontrollieren  

Die Forscher haben auch eine Erklärung dafür, weshalb die meisten Entscheidungen gefällt werden, während die langsamen Schwankungen im negativen Bereich sind. „Das Ansteigen des Bereitschaftspotenzials wird offensichtlich als innerer Impuls oder Bedürfnis verspürt, sich für die Handlung zu entscheiden“, sagt Prof. Schmidt.

Die Wissenschaftler führten das Experiment auch mehrfach mit meditationserfahrenen Versuchspersonen durch. Diese sind aufgrund der Stabilisierung ihrer Aufmerksamkeit besser als nicht Meditierende in der Lage, innere Vorgänge zu beobachten und zu berichten. Einem Meditationsmeister gelang es, den inneren Impuls zum Handeln, also die negative Schwankung, zuverlässig zu identifizieren. Folgte er dem Impuls, verstärkte sich das Bereitschaftspotential wie erwartet. Handelte er ohne Impuls, wurde es schwächer. Verzögerte er die Handlung nach dem Impuls, verschob sich auch das Bereitschaftspotential entsprechend. „Wir werden nicht nur nicht vom Bereitschaftspotenzial bestimmt, wir können es sogar bewusst verändern“, sagt Prof. Schmidt.

Originaltitel der Studie: ‘Catching the Waves’ − Slow Cortical Potentials as Moderator of Voluntary Action

Link: www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0149763416300161

Wie frei ist der Wille wirklich?

Berliner Wissenschaftler prüfen Grundmuster von Entscheidungen

 

Proband im Hirnduell gegen den Computer, Copyright Charité, Carsten Bogler.

Proband im Hirnduell gegen den Computer, Copyright Charité, Carsten Bogler.

Unser Wille ist freier als bislang angenommen. In computergestützten Experimenten haben Hirnforscher der Charité – Universitätsmedizin Berlin Entscheidungsabläufe am Beispiel von Bewegungen untersucht. Die entscheidende Frage: Lassen sich Prozesse im Gehirn wieder stoppen, wenn sie einmal angestoßen sind? Die Forscher kommen zu dem Schluss: Ja, bis zu einem gewissen Punkt, dem „point of no return“. Die Ergebnisse der Studie sind im aktuellen Fachmagazin PNAS* veröffentlicht.

Hintergrund der neuen Untersuchungen: Spätestens seit den 1980er Jahren diskutieren Hirnforscher, Psychologen, Philosophen und Öffentlichkeit über die Bewusstheit und Vorbestimmtheit menschlicher Entscheidungen. Seinerzeit studierte der amerikanische Forscher Benjamin Libet Hirnprozesse von Probanden, während sie einfache freie Entscheidungen fällten. Er zeigte, dass das Gehirn Entscheidungen bereits unbewusst vorwegnahm. Noch bevor sich eine Person willentlich entschieden hatte, war ein sogenanntes „Bereitschaftspotenzial“ in ihren elektrischen Hirnwellen zu erkennen.

Wie aber kann es sein, dass das Gehirn vorab weiß, wie sich ein Proband entscheiden wird, obwohl es diesem selbst noch gar nicht bewusst ist? Die Existenz der vorbereitenden Hirnwellen galt bis dato oft als Beleg für den sogenannten „Determinismus“. Demnach ist der freie Wille eine Illusion – unsere Entscheidungen werden durch unbewusste Hirnmechanismen erzeugt und nicht durch unser „bewusstes Ich“ gesteuert. Die Forscher um Prof. Dr. John-Dylan Haynes vom Bernstein Center for Computational Neuroscience der Charité haben die Thematik gemeinsam mit Prof. Dr. Benjamin Blankertz und Matthias Schultze-Kraft von der Technischen Universität Berlin neu aufgerollt. Mit aktuellen Messtechniken sind sie der Frage nachgegangen, ob Menschen geplante Bewegungsabläufe stoppen können, nachdem das Bereitschaftspotential für eine Handlung ausgelöst worden ist.

„Unser Ziel war herauszufinden, ob mit dem Auftreten der frühen Hirnwellen eine Entscheidung automatisch und unkontrollierbar erfolgt, oder ob sich der Proband noch umentscheiden, also ein ‚Veto’ ausüben kann“, erklärt Prof. Haynes. Dazu haben die Wissenschaftler Probanden in ein „Hirnduell“ mit einem Computer geschickt und während des Spiels die Hirnwellen per Elektroenzephalographie abgeleitet. Ein speziell „trainierter“ Computer versuchte anhand der Hirnwellen vorherzusagen, wann sich ein Proband aufgrund von Anreizen bewegen würde und sollte den Probanden überlisten: Sobald die Hirnwellen Anzeichen dafür gaben, dass sich der Proband in Kürze bewegen würde, wurde das Spiel zugunsten des Computers manipuliert.

Wenn es Probanden möglich ist, aus der Falle der Vorhersagbarkeit ihrer eigenen Hirnprozesse zu entkommen, wäre dies ein Anzeichen dafür, dass sie über ihre Handlungen noch weit länger Kontrolle haben, als bisher angenommen. Genau das konnten die Forscher nun aufzeigen: „Die Probanden sind den frühen Hirnwellen nicht unkontrollierbar unterworfen. Sie waren dazu in der Lage, aktiv in den Ablauf der Entscheidung einzugreifen und eine Bewegung abzubrechen“, sagt Prof. Haynes. „Dies bedeutet, dass die Freiheit menschlicher Willensentscheidungen wesentlich weniger eingeschränkt ist, als bisher gedacht. Dennoch gibt es einen Punkt im zeitlichen Ablauf von Entscheidungsprozessen, ab dem eine Umkehr nicht mehr möglich ist, den ‚point of no return’.“ In weiteren Studien werden die Berliner Wissenschaftler komplexere Entscheidungsabläufe untersuchen.

*Matthias Schultze-Kraft, Daniel Birman, Marco Rusconi, Carsten Allefeld, Kai Görgen, Sven Dähne, Benjamin Blankertz and John-Dylan Haynes. Point of no return in vetoing self-initiated movements. Proceedings of the National Academy of Sciences of the USA, Dec. 2015. doi/10.1073/pnas.1513569112.