Archiv der Kategorie: Pressemitteilungen

Vorsicht beim unkritischem Umgang mit den neuen Grenzwerten für Bluthochdruck

Die Deutsche Gesellschaft für Geriatrie warnt vor unkritischem Umgang mit den neuen Grenzwerten für Bluthochdruck

Blutdruckmessung

Ältere Patienten sollten regelmäßig den Blutdruck durch medizinisches Personal messen lassen.

Die im November 2017 veröffentlichten niedrigeren Grenzwerte für den Bluthochdruck gefährden ältere Patienten – zumindest bei unkritischer Anwendung. Nach den neuen Empfehlungen amerikanischer Fachgesellschaften gilt jetzt nur noch ein Blutdruck von weniger als 120/80 mm Hg als normal. Bereits ab einem Blutdruck von 130/80 mm Hg liegt ein Bluthochdruck vor.

Die neuen amerikanischen Empfehlungen stützen sich auf aktuelle Untersuchungen, die in der Tat auch für ältere Patienten den Nutzen einer intensiveren Blutdrucksenkung belegen konnten. Die diesbezüglichen Studien wurden sorgfältig durchgeführt und die jeweiligen Ergebnisse sind nachvollziehbar. Das Problem taucht bei der Übertragung der Studienergebnisse auf den älteren Patienten im Praxisalltag auf. Hier sind im Wesentlichen zwei Aspekte zu nennen:

1. Die automatische, unbeobachtete Blutdruckselbstmessung, die in der wesentlichen Studie eingesetzt wurde, führt zu Blutdruckwerten, die etwa 15/8 mm Hg niedriger liegen als Messungen durch medizinisches Personal.

2. In die Studie wurden nur sehr rüstige, zuhause lebende, ältere Patienten aufgenommen. So fit wie die Patienten der Studie sind aber bei weitem nicht alle Personen im höheren Lebensalter.

Die große Gefahr liegt daher in der Übertragung dieser Studienergebnisse auf den älteren Patienten im Allgemeinen. Häufig befinden sich ältere Patienten in einem schlechteren Allgemeinzustand mit zahlreichen Begleiterkrankungen wie zum Beispiel einer kognitiven Beeinträchtigung. Unter Umständen leben sie aufgrund einer oder mehrerer Behinderungen bereits in Alten- und Pflegeeinrichtungen. Da Patienten dieser Art gar nicht in die erwähnten Studien aufgenommen wurden, kann streng genommen zu diesen älteren Patienten in schlechterem Allgemeinzustand keine Aussage gemacht werden.

Aus anderen Untersuchungen ist bekannt, dass bei vielfach erkrankten hochbetagten Patienten eine intensivere Blutdrucksenkung mit vielen Problemen einhergeht. Der niedrige Blutdruck bedeutet eine größere Sturzgefahr und damit auch eine größere Gefahr, eine Fraktur zu erleiden. Außerdem geht ein niedriger Blutdruck bei diesen Patienten mit einer erhöhten Sterblichkeit einher. So haben Altenheimbewohner, deren Blutdruck mit zwei oder mehr Blutdruck senkenden Präparaten auf <130 mm Hg gesenkt wurde, eine um 78 Prozent höhere Sterblichkeit als Bewohner, die nur ein Mittel zur Blutdrucksenkung erhielten und deren Blutdruck bei > 130 mm Hg lag (PARTAGE-Studie).

FAZIT: Die Deutsche Gesellschaft für Geriatrie (DGG) erkennt den Nutzen an, den die neuen Grenzwerte des Bluthochdrucks für viele, gerade jüngere Patienten haben können. Gemeinsam mit vielen Kollegen anderer Disziplinen, die mit der Behandlung älterer Patienten befasst sind, warnt sie ausdrücklich vor der Übertragung dieser Empfehlungen auf ältere Patienten. Nur diejenigen Patienten, die in den zugrundeliegenden Studien beschrieben werden, und deren Blutdruck auf die beschriebene Weise gemessen wurde, profitieren von einer intensiveren Blutdruckbehandlung. Bei allen anderen älteren Patienten ist zu befürchten, dass der Schaden einer intensiven Blutdrucksenkung unter Umständen den erwartenden Nutzen übersteigt. Und diese Patienten bilden einen großen Anteil der älteren Bevölkerung!

Whelton PK, Carey RM, Aronow WS, Casey DE Jr, Collins KJ, Dennison Himmelfarb C, DePalma SM, Gidding S, Jamerson KA, Jones DW, MacLaughlin EJ, Muntner P, Ovbiagele B, Smith SC Jr, Spencer CC, Stafford RS, Taler SJ, Thomas RJ, Williams KA Sr, Williamson JD, Wright JT Jr.: ACC/AHA/AAPA/ABC/ACPM/AGS/APhA/ASH/ASPC/NMA/PCNA guideline for the prevention, detection, evaluation, and management of high blood pressure in adults: a report of the American College of Cardiology/American Heart Association Task Force on Clinical Practice Guidelines. Hypertension. 2017;00: e0000–e0000.

Benetos A. et al: An Expert Opinion From the European Society of Hypertension-European Union Geriatric Medicine Society Working Group on the Management of Hypertension in Very Old, Frail Subjects. Hypertension. 2016;67: 820-825.

Benetos A. et al: Treatment with Multiple Blood Pressure Medications, Achieved Blood Pressure, and Mortality in Older Nursing Home Residents THE PARTAGE STUDY
JMA Intern Med. 2015;175(6): 989-995.

 

Hat die innere Uhr Einfluss auf Krebserkrankungen?

Hält die innere Uhr die Krebserkrankung in Schach?

Charité-Wissenschaftler entdecken neuen krebsvorbeugenden Mechanismus

 

Foto: Pexels

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Berlin, 13.12.2017 Sie steuert unseren Schlaf, unser Appetitgefühl und unsere Temperatur – die biologische Uhr gibt unserem Körper den Takt vor. Doch welche Rolle spielt sie in der Behandlung von Krebs? Forscher der Charité – Universitätsmedizin Berlin fanden jetzt heraus, dass die innere Uhr die Zellvermehrung reduzieren kann. Die Ergebnisse sind in der Fachzeitschrift PLOS Biology* veröffentlicht.

In jeder menschlichen Zelle tickt eine eigene innere Uhr, die sogenannte zirkadiane Uhr, die einem 24-Stunden-Rhythmus folgt. Sie steuert beispielsweise Stoffwechselprozesse und die Zellteilung. Der zentrale Taktgeber für die einzelnen Uhren sitzt im Gehirn und wird durch den Wechsel von Licht und Dunkelheit beeinflusst und folgt einem Tag-Nacht-Rhythmus. Ist der Ablauf der inneren Uhr permanent gestört, können auch Stoffwechseltätigkeit und Zellteilung verändert werden. Der Mensch ist dann anfälliger für Krankheiten, wie beispielsweise Krebs.

Das Team um Privatdozentin Dr. Angela Relógio vom Molekularen Krebsforschungszentrum und Institut für Theoretische Biologie untersuchte das Zusammenspiel zwischen Uhr- und Zellzykluskomponenten und den dysregulierenden und hyperaktiven Effekten eines Proteins namens RAS, das bei etwa einem Viertel aller Krebserkrankungen verändert nachzuweisen ist. Die Wissenschaftler konzentrierten sich zudem auf zwei weitere Proteine (Ink4a und Arf), die bekannt dafür sind, Tumorerkrankungen zu unterdrücken. Im Zuge ihrer Forschungen konnten sie nachweisen, dass RAS, das für die Zellvermehrung verantwortlich ist, das Zusammenspiel von innerer Uhr und Zellzyklus beeinträchtigen kann. Dies geschieht über die Proteine (Ink4a und Arf), die sonst Krebs unterdrücken. Ihre Ergebnisse heben die bedeutende Rolle der inneren Uhr in ihrer Funktion als krebsvorbeugenden Mechanismus hervor. „Aufgrund unserer Ergebnisse im Zellmodel scheint es, dass die Uhr wahrscheinlich als Tumorsuppressor wirkt und dass es für Krebszellen von Vorteil ist, die zirkadiane Kontrolle zu umgehen“, erklärt die Krebsforscherin Relógio, deren Nachname auf Portugiesisch passenderweise Uhr bedeutet. „Man kann nicht aufhören, sich zu fragen, ob ein unterbrochenes zirkadianes Timing als nächstes potenzielles Kennzeichen von Krebs aufgenommen werden sollte“, ergänzt sie.

In ihren nächsten Schritten fokussieren sich die Wissenschaftler auf umfassende Studien in zellulären Modellen. Dabei wird die Behandlung mit verschieden Chemotherapeutika simuliert, um den Einfluss der biologischen Uhr auf die Behandlung noch weiter zu präzisieren. Die neuen Erkenntnisse unterstreichen bisher publizierte Chronotherapiestudien und die Relevanz der biologischen Uhr. Um maximale Behandlungsergebnisse zu erzielen, sollte die Krebstherapie überdacht und die individuelle innere Uhr eines Patienten im Rahmen der Therapie berücksichtigt werden.

*Rukeia El-Athman, Nikolai N. Genov, Jeannine Mazuch, Kaiyang Zhang, Yong Yu, Luise Fuhr, Mónica Abreu, Yin Li, Thomas Wallach, Achim Kramer, Clemens A. Schmitt, Angela Relógio. The Ink4a/Arf locus operates as a regulator of the circadian clock modulating RAS activity. Plos Biology. 2017 Dec. doi: 10.1371/journal.pbio.2002940.

Auch Bakterien haben Feinde

Verteidigung um fast jeden Preis

Der Aufwand, den Bakterien für die Abwehr von Fressfeinden betreiben, ist so hoch, dass sie kaum noch in Nachkommen investieren können

 Das räuberische Wimperntierchen Tetrahymena thermophila ernährt sich von Bakterien. © L. Becks


Das räuberische Wimperntierchen Tetrahymena thermophila ernährt sich von Bakterien.
© L. Becks

Auch Bakterien haben Feinde – im Wasser ernähren sich zum Beispiel einzellige Wimperntierchen, die sogenannten Ciliaten, mit Vorliebe von den Mikroben. Diese schützen sich mit diversen Tricks vor den Räubern, welche die Ciliaten wiederum auszuhebeln versuchen. So entsteht ein evolutionärer Wettlauf um die besten Verteidigungs- und Angriffswaffen. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Evolutionsbiologie in Plön zufolge bleibt Beutetieren wie den Bakterien langfristig nichts Anderes übrig, als die Schutzmechanismen aufrechtzuerhalten, selbst wenn der Aufwand dafür so hoch ist, dass sie kaum noch Nachkommen produzieren können.

Räuber und ihre Beute pflegen eine enge Beziehung zueinander: Verändert sich der eine, muss der andere dagegenhalten. Durch eine solche Koevolution und den damit einhergehenden Selektionsdruck kommt es zu einer wechselseitigen Anpassung der Arten.

Die Plöner Forscher um Lutz Becks haben in ihren Experimenten Bakterien und Wimperntierchen für viele Wochen zusammen gehalten und ihre Entwicklung verfolgt. Dabei haben sie beobachtet, dass sich die Mikroben vor der Gefräßigkeit der Ciliaten schützen, indem die normalerweise einzeln lebenden Bakterienzellen nach wenigen Tagen beginnen, in größeren Verbänden als schleimiger „Biofilm“ zu wachsen. So können sie von den Ciliaten nicht mehr so effektiv gefressen werden.

Teure Verteidigung

Solange die Wissenschaftler in ihren Versuchen und Computersimulationen nur den Bakterien Veränderungen erlaubten, konnten diese sich gut vor dem Gefressen werden schützen – und das mit überschaubarem Aufwand. Doch sobald sich auch die Wimperntierchen verändern durften, kam den Bakterien der Schutz teuer zu stehen: Sie produzierten dann nur noch wenige Nachkommen. „Die Feindabwehr ist also sehr kostspielig, denn je besser sich die Bakterien wappnen, umso schlechter vermehren sie sich“, sagt Becks.

Die Bakterien schaffen es demnach nicht, beides zugleich zu optimieren – ein typischer Fall eines evolutionären Kompromisses. Wie genau der Kompromiss ausfällt, hängt aber davon ab, ob sich der Räuber an die Abwehrmaßnahmen der Beute anpassen kann. Wenn ja, wird die Verteidigung für die Beute immer kostspieliger und für die Vermehrung bleibt kaum noch etwas übrig. Kann sich der Räuber dagegen nicht anpassen, muss sich die Beute weniger aufwendig zur Wehr setzen und kann mehr in die Nachkommenschaft investieren“, erklärt Becks.

Weniger Vielfalt

Die Forscher haben außerdem gezeigt, dass bei einem dynamischen Kompromiss die Vielfalt der Räuber abnimmt. Die Wimperntierchen entwickeln folglich weniger unterschiedliche Typen, um sich an Verbände und Biofilme der Bakterien anzupassen. „Das ist für die Beute natürlich günstig und könnte den Druck auf die Bakterien verringern“, so Becks.

Die Studie zeigt, dass mehr Vielfalt in der Beute überraschenderweise nicht immer mehr Vielfalt bei den Räubern bedeutet. Lutz Becks: „Entscheidend ist der Kosten und Nutzen von Merkmalen für die Beute und den Räuber. Wie unsere Experimente zeigen, können sich diese verschieben, je nachdem, ob die Räuber Zeit hatten, sich anzupassen oder nicht.“

Originalveröffentlichung

Weini Huang, Arne Traulsen, Benjamin Werner, Teppo Hiltunen, and Lutz Becks
Dynamical trade-offs arise from antagonistic coevolution and decrease intraspecific diversity.
Nature Communications; 12 December, 2017

Arzneimittelbehörden rufen zur Meldung von Nebenwirkungen auf

Europaweit rufen Arzneimittelbehörden zur verstärkten Meldung von Nebenwirkungen auf

Zum zweiten Mal fordern derzeit alle europäischen Arzneimittelbehörden in einer gemeinsamen Kampagne Patientinnen und Patienten dazu auf, ihnen verstärkt Verdachtsfälle von Nebenwirkungen zu melden. Der Fokus liegt dabei vor allem auf Meldungen von Nebenwirkungen, die nach der Einnahme rezeptfreier Arzneimittel aufgetreten sind. Denn auch bei diesen sogenannten OTC-Produkten können Nebenwirkungen auftreten, deren Meldung einen wichtigen Beitrag zur Arzneimittelsicherheit darstellen. OTC ist die Abkürzung des englischen Begriffs „Over The Counter“ und bedeutet wörtlich übersetzt „Über den Ladentisch“. Der Begriff bezeichnet alle nicht verschreibungspflichtigen Produkte und Arzneimittel zur Selbstbehandlung.

Pharmaunternehmen sowie Ärzte und Apotheker beziehungsweise deren Arzneimittelkommissionen sind über ihre jeweilige Berufsordnung zur Meldungen von unerwünschten Arzneimittelwirkungen, den sogenannten Nebenwirkungen, verpflichtet. Diese Meldungen sind wichtig, um Arzneimittelrisiken möglichst schnell zu identifizieren, da die Behörden dazu auf belastbare Daten und Risikosignale aus der Praxis angewiesen sind. Sie filtern aus der Fülle der berichteten Symptome diejenigen heraus, die möglicherweise ein erstes Signal für eine bisher unbekannte Nebenwirkung sind.

„Ob nach der Einnahme verschreibungspflichtiger oder rezeptfreier Arzneimittel: Es ist in beiden Fällen wichtig, dass möglichst viele Verdachtsfälle von Nebenwirkungen gemeldet werden. Das hilft den Arzneimittelbehörden, Risikosignale so früh wie möglich zu erkennen und dann bei Bedarf wirkungsvolle Maßnahmen zum Schutz der Patientinnen und Patienten zu treffen“, so Prof. Dr. Karl Broich, Präsident des Bundesinstitutes für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM).

Das BfArM informiert im Zusammenhang mit dieser Kampagne auch auf seinem Twitter-Kanal (https://twitter.com/bfarm_de) darüber, wie wichtig das Melden von Nebenwirkungen ist. Patientinnen und Patienten werden per Animation und über Tweets dazu aufgefordert, die Packungsbeilage zu lesen und die Anweisungen zur Dosierung und Einnahmedauer von Arzneimitteln zu beachten.

Erfahrungsgemäß werden nicht alle Verdachtsfälle gemeldet. Die Gründe dafür sind vielfältig. So informieren Patientinnen und Patienten ihren Arzt nicht über jede Beobachtung, oder der Zusammenhang zwischen einer Reaktion oder einem Symptom und dem Arzneimittel wird nicht hergestellt, weil beispielsweise die Symptome einer Grunderkrankung zugeordnet werden. Nebenwirkungen zu Arzneimitteln, die sich bereits länger auf dem Markt befinden, werden bekanntermaßen weniger häufig gemeldet als solche von neuen Arzneimitteln.

Sollte ein Verdacht noch nicht durch den Arzt oder Apotheker gemeldet worden sein, oder Betroffene sind unsicher, ob eine solche Meldung erfolgt ist, besteht für sie die Möglichkeit, diese Meldung auch selbst vorzunehmen. Das BfArM bietet dazu auf seiner Internetseite ein speziell für Verbraucher konzipiertes Online-Meldeformular an sowie einen Meldebogen, mit dem Verdachtsfälle auch per Brief oder Fax gemeldet werden können:

www.bfarm.de/uawmelden

Wenn Sie den Verdacht einer Nebenwirkung melden möchten, beachten Sie bitte auch folgende Hinweise:

  1. Die Meldung der Nebenwirkung ersetzt nicht den Arztbesuch. Nur der behandelnde Arzt kann und darf beurteilen, ob beispielsweise eine Dosisreduktion oder gar ein Absetzen des verdächtigten Medikaments notwendig und medizinisch sinnvoll ist.
  2. Die medizinische Beurteilung des Falles durch einen Arzt oder eine Ärztin, die den Patienten und die medizinischen Hintergründe gut kennt, stellt eine wichtige Informationsquelle dar. Eventuell vorhandene Arztbriefe oder Krankenhausberichte sollten der eigentlichen Meldung daher zusätzlich beigefügt werden.

Die Daten werden über eine gesicherte Verbindung in die Datenbank übermittelt und selbstverständlich vertraulich behandelt.

Beobachtung von Arzneimitteln nach der Zulassung

Die Kenntnisse über die Sicherheit von Arzneimitteln sind zum Zeitpunkt ihrer erstmaligen Zulassung nicht vollständig. Dies ergibt sich vor allem daraus, dass die klinische Erprobung eines Arzneimittels an einer relativ geringen Zahl von Patienten durchgeführt wird. Seltene oder sehr seltene unerwünschte Wirkungen, Wechselwirkungen oder andere Risiken im Zusammenhang mit der Arzneimittelanwendung können in klinischen Prüfungen üblicherweise nicht erkannt werden. Diese Patientinnen und Patienten sind zudem unter verschiedenen Aspekten für die klinische Prüfung besonders ausgewählt worden, was nicht notwendigerweise den Bedingungen bei der breiten Anwendung des Arzneimittels entspricht.

Das Arzneimittelgesetz der Bundesrepublik Deutschland sieht deshalb vor, dass nach der Zulassung eines Arzneimittels die Erfahrungen bei seiner Anwendung fortlaufend und systematisch gesammelt und ausgewertet werden. Dies ist eine der Aufgaben des BfArM und des Paul-Ehrlich-Institutes (PEI). Die Meldung von Verdachtsfällen auf Nebenwirkungen ist hierzu ein wichtiger Baustein.

 

Titelgebendes Zitat des Mediziners Leo Alexander 1949. Copyright Lässig Charité.

Gefährdungen der modernen Medizin

Ausstellungseröffnung: Charité im Nationalsozialismus und die Gefährdungen der modernen Medizin

 

GeDenkOrt Ausstellungsraum rechts CopyrightCharité.

GeDenkOrt Ausstellungsraum rechts
CopyrightCharité.

Die Charité – Universitätsmedizin Berlin hat heute im Rahmen des Projekts GeDenkOrt.Charité die Ausstellung „Der Anfang war eine feine Verschiebung in der Grundeinstellung der Ärzte“ eröffnet. Es wird nach den Haltungen und Verhältnissen gefragt, die dazu führen konnten, dass Mediziner zwischen 1933 und 1945 in einer aus heutiger Sicht ethisch fragwürdigen und menschenverachtenden Weise gehandelt haben.

GeDenkOrt Ausstellungstafel Uniformieren Deformieren - Copyright Charité

GeDenkOrt Ausstellungstafel Uniformieren Deformieren – Copyright Charité

Am Beispiel der Berliner Medizinischen Fakultät wird gezeigt, wie umfassend und bereitwillig sich auch Angehörige der Charité für die biopolitischen Maßnahmen und Ziele des Regimes in Anspruch nehmen ließen. „Viele leitende Mediziner der Charité und der Friedrich-Wilhelms-Universität machten in der Zeit des Nationalsozialismus ihre Kliniken und Institute zu Orten der NS-Rassen-, Leistungs- und Vernichtungsmedizin. Daher ist es uns überaus wichtig, uns mit diesem Kapitel der Charité-Geschichte transparent und öffentlich auseinanderzusetzen“, sagte Prof. Dr. Karl Max Einhäupl, Vorstandsvorsitzender der Charité. Er ergänzte: „Wir lernen aus der Geschichte nur, wenn wir den Bezug zur Gegenwart herstellen und Gefährdungen thematisieren, die auch der modernen Medizin immanent sind. Die Charité bekennt sich dazu, eine Wissenschaft in Verantwortung aktiv zu leben.“

Die Ausstellung ist als Rundgang angelegt und zeigt im ersten Teil die Perspektive der Betroffenen. Dazu gehören Patienten, die Opfer medizinischer Grenzüberschreitungen wurden sowie Studierende und Wissenschaftler, die entlassen und Opfer von Vertreibung und Verfolgung geworden sind. Die individuellen Schicksale werden anhand von persönlichen Dokumenten und Selbstzeugnissen thematisiert. Ein weiterer Teil der Ausstellung nähert sich anhand von neun ausgewählten Fachdisziplinen und ihrer Protagonisten der Perspektive von Tätern – Medizinern und Mitarbeitern.

Titelgebendes Zitat des Mediziners Leo Alexander  1949. Copyright Lässig Charité.

Titelgebendes Zitat des Mediziners Leo Alexander 1949. Copyright Lässig Charité.

Steffen Krach, Staatssekretär für Wissenschaft und Forschung, betonte: „Die Berliner Wissenschaft steht in einer besonderen Verantwortung, sich mit ihrer eigenen Geschichte in der Zeit des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen. Das Projekt GeDenkOrt.Charité, in dem die Charité mit der Universität der Künste zusammenarbeitet, und die heute eröffnete Ausstellung leisten hierfür einen wichtigen Beitrag. Ich danke allen Beteiligten, mit deren Hilfe ein dauerhafter Ort für die Auseinandersetzung mit der Charité-Vergangenheit entstehen konnte.“

Der Blick zurück soll auch dazu anregen, über gegenwärtige bzw. immanente Gefährdungen der modernen Medizin nachzudenken. „Wir zeigen eine ganze Bandbreite individuellen Handelns und den zugrundeliegenden Einstellungen, die teilweise auch über die NS-Zeit hinaus weiter wirksam waren“, erklärte Dr. Judith Hahn, Kuratorin vom Institut für Geschichte der Medizin der Charité. Sie fügte hinzu: „Die dargestellten Grenzüberschreitungen sollen auch einen Dialog anregen über die Verantwortung der Medizin und der Wissenschaft in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.“

Die Ausstellung „Der Anfang war eine feine Verschiebung in der Grundeinstellung der Ärzte“ – Die Charité im Nationalsozialismus und die Gefährdungen der modernen Medizin wird von der Lotto-Stiftung Berlin, der Friede Springer Stiftung und dem Freundeskreis der Charité unterstützt. Sie ist ab dem 24. November täglich von 9 bis 18 Uhr in der Psychiatrischen und Nervenklinik am Campus Charité Mitte, Charitéplatz 1 in 10117 Berlin (Geländeadresse: Bonhoefferweg 3) zu sehen. Der Eintritt ist frei.

Weitere Informationen unter https://gedenkort.charite.de/

Patientinnentag in der Universitäts-Frauenklinik

Ein Abend für Frauen: Der Patientinnentag  

Infoveranstaltung  am 22. November 2017 zu Beckenboden, HPV-Impfung und Krebstherapien Infoveranstaltung zu Beckenboden, HPV-Impfung und Krebstherapien

am Mittwoch, den 22. November 2017
von 17 Uhr bis 20 Uhr
in der Bibliothek der Klinik für Frauenheilkunde des Universitätsklinikums Freiburg

steht unter dem Motto „Moderne Medizin im Einklang mit der Frau“.

In Kurzvorträgen informieren Expertinnen und Experten des Universitätsklinikums Freiburg über moderne Therapien bei Beckenbodenbeschwerden, das Wirkspektrum der HPV-Impfung und Juckreiz im Intimbereich. Die operative Therapie bei Brustkrebs wird ebenso im Fokus stehen wie das Thema Knochengesundheit bei Krebserkrankungen. Ebenfalls wird es einen Vortrag dazu geben, was gegen Nebenwirkungen bei Krebstherapien hilft.

Zusätzliche Informationen erhalten Interessierte an den Infoständen der Gruppe „Frauenselbsthilfe nach Krebs e.V.“ und der Selbsthilfegruppe „Inkontinenz e.V.“, sowie der Psychosozialen Krebsberatungsstelle des Tumorzentrums Freiburg – CCCF.

Der Eintritt ist frei, eine Anmeldung nicht erforderlich.

Flyer_Patientinnentag_2017-II__2_

Die Feldenkrais-Methode sorgt für mehr Beweglichkeit

„Wenn du weißt, was du tust, kannst du tun, was du willst“: die Feldenkrais-Methode

Es gibt viele Methoden und Konzepte, um etwas für Körper und Seele, kurz für das Wohlbefinden insgesamt zu tun. Eine landläufig weniger bekannte, von Kennern jedoch sehr geschätzte Art von Übungen, die helfen sollen, krank machende Bewegungs- und Verhaltensmuster aufzuspüren und zum Positiven zu verändern, ist die Feldenkrais-Methode. Diese von dem Physiker und Judolehrer Moshé Feldenkrais entwickelte und nach ihm benannte Therapie versteht sich eigentlich nicht als eine Behandlungsform, sondern mehr als eine Art Unterricht. Deshalb ist bei Feldenkrais auch nicht von Patienten die Rede, sondern von Schülern. Sie sollen sich ihrer eigenen Bewegungen bewusst werden und sie so zu verbessern lernen.

Doch der Feldenkrais-Ansatz greift noch weiter: Er will erreichen, dass die Schüler durch Veränderung der eigenen Wahrnehmung, also des Bildes, das sie sich im Laufe ihres Lebens von sich selbst gemacht haben, in die Lage versetzt werden, ihr Verhalten zu korrigieren und so neue Lösungen für Probleme in ihrem Leben zu finden. Dieses Konzept mag auf den ersten Blick recht esoterisch erscheinen, doch Feldenkrais wollte es so nicht verstanden wissen. Er sah in seiner Methode vielmehr eine pädagogische Bewegungstherapie, um Erkrankungen zu lindern bzw. vorzubeugen, die mit einer falschen Körperhaltung einhergehen. Dieser schädlichen Bewegungsmuster sollen sich die Feldenkrais-Schüler bewusst werden, sie durch „Umlernen“ gezielt verbessern und sich auf diese Weise neue körperliche Fähigkeiten erschließen. Allerdings meint Feldenkrais ein sehr umfassendes „Lernen“, ein „organisches Lernen“, wie er es nennt – so wie Kinder beim Entwickeln ihrer Bewegungsfähigkeiten lernen.

Es geht also um ein nicht-akademisches Lernen, bei dem Bewegung als Medium dient. Dabei sollen jedoch nicht nur schädliche Bewegungsmuster durch bessere ersetzt, sondern gleichzeitig auch geistige Fähigkeiten weiterentwickelt werden, etwa um die negativen Folgen von schlechten Angewohnheiten oder Zwängen zu erkennen, ihnen entgegenzuwirken und dabei zugleich die eigenen Grenzen zu erweitern.

Die Feldenkrais-Übungen zielen darauf ab, durch das Aufzeigen von Alternativen zu nachteiligen Bewegungs- (und Verhaltens-)mustern die Beweglichkeit von Körper und Geist gleichermaßen zu optimieren. Denn Feldenkrais geht davon aus, dass Bewegung Ausdruck einer gesamten Person ist und daher der geeignetste Ansatz für Verbesserungen: Sprich, wer seine Bewegungsdefizite erkennt und gezielt daran arbeitet, erlangt durch die Fähigkeit zur Selbstreflexion ebenfalls mehr Bewusstheit über sein Denken, Fühlen, Wahrnehmen und Handeln. Im Wesentlichen ist es die Anleitung zur Verbesserung der eigenen Wahrnehmungsfähigkeit, welche die Feldenkrais-Methode von anderen Körpertherapieformen, wie etwa Pilates oder Yoga, unterscheidet. Getreu dem Motto ihres „Erfinders“: „Wenn du weißt, was du tust, kannst du tun, was du willst!“

Konkret wird die Feldenkrais-Methode zur Behandlung von Haltungsschäden aller Art eingesetzt sowie von orthopädischen Defiziten, speziell von Rückenleiden. Die Übungen haben sich jedoch auch als Therapie bei Nervenleiden, bei chronischen Schmerzen sowie zum Stressabbau bewährt. Wobei erwähnt werden muss, dass es für die Wirksamkeit der Feldenkrais-Übungen bislang keinerlei wissenschaftliche Belege gibt. Doch aus Sicht seiner Schüler geben die positiven Erfahrungen mit der Methode dem „Therapeuten“ recht. Zudem fußt das Konzept auf den nachgewiesenen Erkenntnissen von Gehirnforschern zu der untrennbaren Verbindung zwischen Körper und Geist: Deshalb kann das Gehirn auch durch Bewegungsabläufe beeinflusst werden.

Die Feldenkrais-Bewegungsmuster können im Einzel- oder Gruppenunterricht erlernt und geübt werden. Die Übungen sind nicht anstrengend und daher von jedermann gut erlernbar.

 

Der lange Schatten von Gewalt im Kindesalter

ERC Starting Grant zur Erforschung generationsübergreifender Folgen früher Traumata

Berlin, 25.09.2017 Übertragen sich Kindheitstraumata, wie beispielsweise frühe Gewalt- und Missbrauchserfahrungen, auf folgende Generationen? Lassen sich die Spätfolgen von Kindheitstraumata in darauffolgenden Schwangerschaften nachweisen? Und haben Kinder von Müttern, die solche Erfahrungen gemacht haben, aufgrund dieser veränderten pränatalen Bedingungen ein erhöhtes Krankheitsrisiko? Diesen Fragen gehen Forscher um Prof. Dr. Claudia Buß an der Charité – Universitätsmedizin Berlin in den kommenden fünf Jahren nach. Mit 1,48 Millionen Euro fördert der Europäische Forschungsrat die geplanten Untersuchungen. Die Arbeiten beginnen in diesem Monat und erste Frauen werden in die Studien aufgenommen.

Der lange Schatten von Gewalt im Kindesalter

Laut EU-Statistik hat eine von drei Frauen in ihrem Leben physische oder sexuelle Gewalt erlebt. Die Spätfolgen kindlicher traumatischer Erfahrungen können vielseitig sein und ein verändertes Stressverhalten, Fettleibigkeit oder auch eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, im Verlauf des Lebens wiederholt Gewalt ausgesetzt zu sein, umfassen. Kinder von Frauen mit Gewalt- und Missbrauchserfahrungen haben ebenfalls ein erhöhtes Risiko für psychische und auch körperliche Erkrankungen, auch wenn sie selbst keine traumatischen Erfahrungen gemacht haben. „Es ist wie ein langer Schatten, den Gewalt- und Missbrauchserfahrungen im Kindesalter auslösen“, sagt Prof. Dr. Claudia Buß. „Inwiefern dieser auch in die folgende Generation hineinreicht, das wollen wir herausfinden, beispielsweise anhand von Beobachtungen der Gehirnentwicklung des Kindes.“

Bisher wurden die Ursachen einer möglichen Übertragung mütterlicher früher Lebenserfahrungen in der postnatalen Entwicklungsphase des Kindes gesucht, denn häufig leiden betroffene Frauen unter postpartaler Depression oder haben Schwierigkeiten, eine enge Bindung zu ihrem Kind aufzubauen, was eine optimale kindliche Entwicklung beeinträchtigen kann. Die Charité-Wissenschaftler gehen davon aus, dass dieser Übertragungsprozess jedoch bereits viel früher beginnt. Zeigen sich während der Schwangerschaft Veränderungen in der Stressbiologie der Mutter, die die Entwicklung des Ungeborenen beeinflussen könnten? Sind daher Kinder von Müttern mit traumatischen Kindheitserfahrungen in ihrem späteren Leben anfälliger für Krankheiten? Lassen sich Veränderungen in der Gehirnstruktur von Neugeborenen feststellen, deren Mütter traumatische Erfahrungen gemacht haben, als sie selbst Kind waren? Fragen wie diese zu den langfristigen Auswirkungen von Kindheitstraumata und deren Übertragung während der Schwangerschaft auf die nachfolgende Generation wollen Prof. Buß und ihr Team anhand umfassender Studien beantworten.

Der ERC Starting Grant fördert wissenschaftlichen Nachwuchs und wird vom Europäischen Forschungsrat (ERC) im Zuge des Forschungsrahmenprogramms Horizon 2020 vergeben. Für den Aufbau der Arbeitsgruppe am Institut für Medizinische Psychologie der Charité stehen 1,48 Millionen Euro zur Verfügung (Grant Agreement)

Wechselwirkungen von Medikamenten prüfen

Wenn mehrere Medikamente gleichzeitig genommen werden müssen: Computerprogramme sollen Ärzte unterstützen

Das schafft kein Arzt ohne Hilfsmittel: Dosierungen, spezifische Indikationen und Kontraindikationen von tausenden Medikamenten durchsuchen, Wechselwirkungen prüfen und die individuell beste Kombination für den Patienten zusammenstellen. Wenn der Patient gar wie knapp jeder zweite Deutsche über 65 Jahren fünf oder mehr Medikamente einnimmt, kann die individualisierte Therapie zur zeitraubenden Herausforder

Professor Dr. med. Walter E. Haefeli ist Ärztlicher Direktor der Abteilung Klinische Pharmakologie und Pharmakoepidemiologie des Universitätsklinikums Heidelberg

Professor Dr. med. Walter E. Haefeli ist Ärztlicher Direktor der Abteilung Klinische Pharmakologie und Pharmakoepidemiologie des Universitätsklinikums Heidelberg

ung werden. „Bei Polypharmazie erreichen die ärztlichen Entscheidungen eine solche Komplexität, dass ich mich frage, wie man sie ohne Hilfe im Kopf lösen will“, sagt Professor Walter E. Haefeli (Foto), Ärztlicher Direktor der Abteilung Klinische Pharmakologie und Pharmakoepidemiologie des Universitätsklinikums Heidelberg. Der ausgewiesene Experte für Klinische Pharmakologie plädiert deshalb dafür, sich zum Wohle der Patienten von Computerprogrammen bei Entscheidungen zur Arzneimitteltherapie helfen zu lassen. In seiner Keynote-Lecture beim Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (DGG) in Frankfurt wird Haefeli die Herausforderungen im Umgang mit aktuellen Arzneimittelinformationssystemen detailliert erläutern. Außerdem wird er aufzeigen, wie die Verordnungen mithilfe von IT-Unterstützung in Zukunft sicherer werden und sich stärker an den Präferenzen der Patienten orientieren könnten.

Viele der gängigen Informationssysteme, die Ärzte und Apotheker bereits nutzen, um Verordnungen auf mögliche Wechselwirkungen und andere Risiken zu prüfen, haben aus Haefelis Sicht einen erheblichen Schwachpunkt: „Sie produzieren unzählige Warnungen, von denen die allermeisten auf den jeweiligen Patienten gar nicht zutreffen.“ Diese Programme, die im klinischen Alltag Entscheidungen unterstützen sollen, führen häufig vor allem zu einer Entscheidung: sie wieder abzuschalten. „In manchen Studien werden 95 Prozent der Warnungen, die das Programm ausgibt, weggeklickt“, kritisiert Haefeli. Für die Folge dieses unnützen Warnens gibt es bereits einen Begriff: „alert fatigue“. Auf Deutsch: Alarmmüdigkeit. Unpassende Gefahrenhinweise könnten zudem dazu führen, dass ein Medikament vorsorglich abgesetzt wird, obwohl es dem Patienten nützt.

Arzneimittelinformationssysteme müssen intelligenter werden

Haefeli weist zudem auf die Schwächen von verbreiteten Stand-alone-Systemen hin, die nicht an die Klinik- oder Praxissoftware angeschlossen sind. Sie könnten die Kofaktoren wie Begleiterkrankungen und aktuelle Laborwerte der Patienten nicht oder nur unzureichend berücksichtigen. Trotzdem rät der Klinische Pharmakologe zum Einsatz von Unterstützungssystemen. „Die Erfahrung zeigt, dass mithilfe des Computers eher evidenzbasiert behandelt wird“, sagt Haefeli, „weil Ärzte in diesen Situationen häufiger in der Literatur nachschlagen.“

Für die Zukunft wünscht sich Haefeli jedoch intelligentere IT-Unterstützung. Er forscht zusammen mit Kollegen an praxistauglichen Programmen. „Wir brauchen raffiniertere Software, die individualisierte Empfehlungen ausgibt“, so Haefeli. „Dafür muss sie tief in die Informationssysteme der jeweiligen Klinik oder Praxis integriert sein.“ Nur so könnten die Programme alle relevanten Daten des Patienten einbeziehen und dem Arzt Arbeit abnehmen. Dafür muss aber gewährleistet sein, dass entscheidungsrelevante Kofaktoren, wie zum Beispiel Allergien, verlässlich und maschinenlesbar kodiert und über Schnittstellen verfügbar sind.

Das funktioniert: Untertherapie vermeiden und zugleich Nebenwirkungen verringern

Ein ideales Unterstützungssystem würde laut Haefeli zuerst anhand der Diagnosen, Beschwerden und Präferenzen eines Patienten seine Therapiebedürftigkeit einschätzen und ermitteln, welche Medikamente zur Behandlung seiner Krankheiten infrage kommen. Anschließend würde es anhand eines möglichst vollständigen Medikationsplans prüfen, ob in den aktuellen Verordnungen ein notwendiges Medikament fehlt. Ein Programm mit dieser Funktionalität gebe es bislang nicht auf dem Markt, so Haefeli. Es sei aber notwendig, um Untertherapie zu vermeiden. Erst danach sollte das Programm Doppelverordnungen, Dosierungsfehler und Wechselwirkungen überprüfen. „Das Programm muss dabei nicht nur Wirkstoffpaare anschauen, sondern auch riskante oder interagierende Dreier- und Viererkombinationen.“ Außerdem müsse die Software auch Begleiterkrankungen wie Nierenfunktionsstörungen berücksichtigen und gegebenenfalls die Dosierungsempfehlung entsprechend anpassen.

Eine so individuell optimierte Therapie führt jedoch nicht zwangsläufig zu weniger Verordnungen, wie Haefeli betont: „Nicht die Zahl der Medikamente ist entscheidend für eine gute Behandlung, sondern die richtige Gesamtmedikation, die den Lebenszielen des Patienten am besten entspricht.“ Ziel sei es, die Nebenwirkungen für die häufig multimorbiden Patienten zu verringern. Dass dies möglich ist, wurde sowohl anhand der deutschen FORTA-Liste, einer Positiv- und Negativliste für die Arzneimitteltherapie älterer Menschen, als auch mit den in Irland entwickelten STOPP/START-Kriterien, eines Tools zur Vermeidung von Untertherapie und riskanten Verordnungen, bereits gezeigt. Dabei erhielten die Studienteilnehmer nach der Umstellung im Schnitt genauso viele Medikamente wie zuvor, vertrugen diese jedoch besser. Allerdings ist eine solche händische Überarbeitung des Medikationsplans zeitaufwändig. „Für die FORTA-Liste dauert die Anpassung pro Patient etwa eine halbe Stunde“, so Haefeli. „Mit Software ginge das schneller. Der Arzt könnte in der gewonnenen Zeit andere Fragen klären, zum Beispiel die ständig wechselnden Therapieziele seines Patienten.“

Der Nutzen neuer Systeme muss durch Studien belegt werden

Für die meisten der derzeit angewandten oder in Entwicklung befindlichen Unterstützungssysteme fehlen bislang gute Studien, die ihren Nutzen belegen. In einem ersten Schritt müssen Entwickler zeigen, dass ihr System so arbeitet wie vorgesehen. Anschließend müssen Studien belegen, dass die Anwender, also Ärzte und Apotheker, sich in ihren Entscheidungen von dem Hilfsprogramm beeinflussen lassen. „Für viele Systeme wurde dieser zweite Schritt gar nicht geprüft“, sagt Haefeli. In einem dritten Schritt sollte schließlich überprüft werden, ob die technische Entscheidungshilfe den Patienten einen Vorteil bringt. „Dabei kommt es auf Endpunkte an, die für geriatrische Patienten relevant sind“, so Haefeli, „also die Lebensqualität oder die Frage der Autonomie, also ob ein Umzug ins Pflegeheim vermieden werden kann. Solche Endpunkte wurden bislang in Studien aber kaum untersucht und sind selten das Behandlungsziel in Leitlinien.“

Auf dem Weg zu besseren Unterstützungssystemen für die ärztliche Entscheidungsfindung erhofft sich Haefeli einen Impuls aus der aktuellen Forschung zur Krebsbehandlung. In der Onkologie werden bereits heute für ausgewählte Patienten maßgeschneiderte Therapien mit Computerhilfe zusammengestellt. Das dort gewonnene Know-how müsse man auch in die Routineanwendung für andere Patientengruppen übertragen, so Haefeli.

Zur Person

Professor Dr. med. Walter E. Haefeli ist Ärztlicher Direktor der Abteilung Klinische Pharmakologie und Pharmakoepidemiologie des Universitätsklinikums Heidelberg. Nach dem Medizinstudium in Basel und Weiterbildungsaufenthalten an den Universitäten Stanford und Harvard habilitierte er sich 1995 an der Universität Basel in Innerer Medizin. 1999 wurde Haefeli auf den Lehrstuhl für Klinische Pharmakologie an der Universität Heidelberg berufen. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen die Erforschung von Arzneimittelwechselwirkungen und die Entwicklung von Techniken zur Individualisierung von Arzneimitteltherapien, unter anderem hinsichtlich der Bedürfnisse des einzelnen Patienten. Zur Bearbeitung dieser Herausforderungen forscht Haefeli bevorzugt nach IT-basierten Lösungen.

Termin:

Professor Walter E. Haefeli, Universitätsklinikum Heidelberg
Keynote-Lecture: „IT-Unterstützung bei Polypharmazie – Herausforderungen, Hoffnungen und Träume”
DGG-Jahreskongress
Campus Westend – Hörsaal 4
Donnerstag, 28. September 2017, 14:15-15:00 Uhr
Frankfurt am Main

Neuro-endokriner Reflex führt zu Infektionen

Verbindung zwischen Nerven- und Immunsystem: Neuro-endokriner Reflex führt zu Infektionen

Neuroendokriner_Reflex_5b3a1a342fWissenschaftler der Charité – Universitätsmedizin Berlin konnten in Kooperation mit dem Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE), der Harvard Medical School in Boston und der Ohio State University in Columbus zeigen, dass die erhöhte Infektionsrate nach Rückenmarksverletzungen durch eine direkte Fehlsteuerung des geschädigten Nervensystems verursacht wird. Über einen neu entdeckten Reflexbogen kommt es zu einer gestörten Hormonfreisetzung in der Nebenniere, die die Abwehrkräfte des Organismus gegenüber Bakterien schwächt. Die in der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins Nature Neuroscience veröffentlichten Ergebnisse sind wegweisend für die Entwicklung neuer Therapieansätze zur Reduktion von Infektionen.

Nach Verletzungen des Gehirns oder des Rückenmarks, beispielsweise durch einen Schlaganfall oder Unfall, kommt es zu einer bedeutenden Schwächung des Immunsystems, die häufig zu schweren Infektionen wie Lungenentzündungen oder Harnwegsinfekten führt. Dies wiederum erschwert die Regeneration des verletzen Nervengewebes und die Rehabilitation der betroffenen Patienten. Wie genau die Verletzung des Nervensystems zu den Infektionen führt und welche physiologischen Parameter verantwortlich sind, ist bisher nur sehr ungenau verstanden. Das Forscherteam um Privatdozent Dr. Harald Prüß von der Klinik für Neurologie der Charité und dem DZNE Berlin und um Prof. Dr. Dr. Jan M. Schwab, Leiter der Abteilung für Neuroparaplegiologie der Charité, konnten diesen Ablauf nun erstmalig entschlüsseln.

„Ausgangspunkt unserer Studie war die Vermutung, dass aus dem Rückenmark kommende Nervenbahnen einen direkten Einfluss auf die Funktion von Immunorganen wie Lymphknoten oder Milz haben“, erklärt Privatdozent Dr. Prüß. Er fügt hinzu: „Zu unserer Überraschung zeigte sich jedoch, dass diese direkte Ansteuerung nicht für die Fehlfunktion der Immunorgane verantwortlich ist und es stattdessen zu einer immunologischen Fehlsteuerung kommt, die den gesamten Körper betrifft.“

Die Wissenschaftler wiesen nach, dass das Nervensystem über die Hormonproduktion der Nebenniere einen indirekten Kommunikationsweg nutzt, der zu einem starken Abbau vieler Immunzellen führt. Im gesunden Organismus werden die Nebennieren vom Nervensystem sowie von übergeordneten Hormonzentren kontrolliert. Man ging bisher davon aus, dass eine Verletzung des Zentralnervensystems über die Hormonachse zur Freisetzung von Kortison in der Nebenniere führt, während eine traumabedingte Stressreaktion die Ausschüttung der Nebennieren-Hormone Adrenalin und Noradrenalin verursacht. „Unsere Daten zeigen, dass die Fehlfunktion der Nebenniere unter direkter Kontrolle des verletzten Nervengewebes steht“, ergänzt der Wissenschaftler und Neurologe. Dadurch komme es im Gegensatz zur gängigen Lehrmeinung infolge einer traumatischen Rückenmarkverletzung sogar zunächst zu einem Abfall der Stresshormone und zu einer gesteigerten Kortisonproduktion.

Die veränderten Hormonspiegel führten zu einem dramatischen Abbau vieler Immunzellen, insbesondere von Vorläuferzellen der T- und B-Zell-Reihen. Dadurch schrumpften Milz, Thymus oder Lymphknoten um teilweise 50 bis 80 Prozent ihrer Größe. Durch eine experimentelle Ausschaltung der Nebennieren ließ sich dieser massive Verlust von Immunzellen umkehren, allerdings waren die untersuchten Mäuse weiterhin anfällig für Infektionen. Wurde diesen Tieren hingegen Nebennieren-Gewebe auto-transplantiert, waren sie vor Infektionen geschützt. Die Nebennieren-Transplantate produzieren dabei die für den Körper notwendigen Hormone, stehen aber nicht mehr unter der dysfunktionalen Kontrolle des Nervensystems, wie sie sich sonst nach einer hohen Rückenmarkverletzung ausbildet.

Die Identifikation dieses zweiteiligen pathologischen Reflexbogens per Nervenbahnen vom Rückenmark zur Nebenniere und von dort über Hormonsignale zum Immunsystem, vertieft das Verständnis der Schnittstellen zwischen Nervensystem und Immunsystem fundamental. Die Entdeckung der Immunparalyse und der ihr zugrundeliegenden Mechanismen ist ein wichtiger Schritt hin zu einer besseren Behandlung von rückenmarkverletzten Patienten. Querschnittgelähmte Patienten leiden somit nicht nur an den offensichtlichen Lähmungen von Motorik und Sensibilität, sondern auch einer Lähmung des Immunsystems.

„In der Tat konnten umfassende Analysen der Kortison- und (Nor)Adrenalin-Spiegel bei Patienten zeigen, dass sie sich nach einer akuten Rückenmarkverletzung grundsätzlich ähnlich verhalten wie in den experimentellen Arbeiten“, erklärt Prof. Schwab. Damit könnte die therapeutische Normalisierung dieses neuro-endokrinen Reflexes eine wirksame Strategie sein, um die teils lebensbedrohlichen Infektionen nach einer Verletzung des Zentralnervensystems in den Griff zu bekommen.

*Harald Prüss, Andrea Tedeschi, Aude Thiriot, Lydia Lynch, Scott M. Loughhead, Susanne Stutte, Irina B. Mazo, Marcel A. Kopp, Benedikt Brommer, Christian Blex, Laura-Christin Geurtz, Thomas Liebscher, Andreas Niedeggen, Ulrich Dirnagl, Frank Bradke, Magdalena S. Volz, Michael J. DeVivo, Yuying Chen, Ulrich H. von Andrian, Jan M. Schwab (2017). Spinal cord injury-induced immunodeficiency is mediated by a sympathetic-neuroendocrine adrenal reflex, Nature Neuroscience. doi: 10.1038/nn.4643