Archiv der Kategorie: Wissenschaft

Von der Corona-Impfung bald auch zur Behandlung von Krebs?

Eine wissenschaftliche Spitzenleistung in der Gentechnik

Sternstunden der Wissenschaft - Buchcover

Die Trump-Administration, große Teile des US Kongresses, der brasilianische Präsident, der größte Teil der deutschen AfD und bedeutende Teile der schweizerischen SVP haben in der Covid-Krise aktiv wissenschaftsbasierte Schutzmaßnahmen für Gesundheit und Sicherheit untergraben, wissenschaftliche Erkenntnisse beiseitegeschoben und zu vielen Anlässen immer wieder die wissenschaftlichen Integrität an sich in Frage gestellt. Doch sind die kürzlich erzielten Erfolge bei der Entwicklung eines Impfstoffes gegen das Corona-Virus nichts weniger als einer der größten Triumphe der Wissenschaften der letzten Jahre. Die Entwickler des Impfstoffes BNT162b2 der deutschen Firma BioNTech, das deutsch-türkische Ehepaar Ugur Sahin und Özlem Türeci, wurden 2020 sogar zur «Financial Times Person des Jahres» gewählt. Es war nur das zweite Mal in der 50-jährigen Geschichte dieser Auszeichnung, dass diese an einen Wissenschaftler/eine Wissenschaftlerin ging (im Jahr 2000 ging sie an den amerikanischen Biotechnologen Craig Venter, und 1999 ging die Auszeichnung «Financial Times Person des Jahrhunderts» an den Mathematiker und Computer-Pionier John von Neumann). BioNTech arbeitete für die Entwicklung, Logistik, Finanzen, die Überwachung der klinischen Studien und für die Herstellung mit der US Firma Pfizer zusammen (in den US Medien wird fälschlicherweise oft vom «Pfizer-Impfstoff» gesprochen, doch Pfizer ist nur Lizenznehmer und in China gar nicht dabei, denn dort wurde die Lizenz für Vertrieb und Herstellung von der chinesischen Firma Fosun erworben). Nichtsdestotrotz herrscht in der Bevölkerung eine breite Skepsis gegenüber dem Impfstoff, was Anlass sein soll, diesen Impfstoff einmal genauer zu betrachten.

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Krebs bekämpfen mit biologischen Schaltkreisen

Die Freiburger Forscherin Barbara Di Ventura erhält den mit zwei Millionen Euro dotierten ERC Consolidator Grant

Die Freiburger Forscherin Barbara Di VenturaFoto: Jürgen Gocke
Die Freiburger Forscherin Barbara Di Ventura ©Foto: Jürgen Gocke

Freiburg, 09.12.2020 Es ist einer der renommiertesten Preise für europäische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler: Die Freiburger Ingenieurin und Biologin Prof. Dr. Barbara Di Ventura erhält für ihr Forschungsvorhaben einen Consolidator Grant des Europäischen Forschungsrats (ERC). Die Auszeichnung ist mit zwei Millionen Euro dotiert. Mit ihrem Projekt „InCanTeSiMo – Intelligent cancer therapy with synthetic biology methods“ will Di Ventura auf der Basis von Methoden aus der synthetischen Biologie eine neuartige Krebstherapie entwickeln. Dafür wird ihre Forschungsgruppe Netzwerke aus synthetischen Proteinen zusammensetzen, die über molekulare Transportvehikel in menschliche Krebszellen eingeschleust werden können. Diese Netzwerke, auch biologische Schaltkreise genannt, könnten erkennen, ob eine Zelle an Krebs erkrankt ist und diese von innen abtöten.

„Ein Nachteil der gängigen Chemotherapien gegen Krebserkrankungen ist, dass sie meist im ganzen Körper und nicht ausschließlich am Tumor und den Krebszellen selbst wirken“, betont Di Ventura. Sie will eine Therapieform entwickeln, die nur Krebszellen betrifft und das restliche Gewebe schont. Ein weiterer Vorteil der neuen Methode: Wenn die Schaltkreise mit lichtempfindlichen Bestandteilen versehen werden, ließe sich die Wirkung zeitlich gesteuert mit Licht auslösen. „Damit ließe sich die Therapie gezielter und flexibler einsetzen“, sagt die Forscherin. „Im Laufe des Projekts wollen wir herausfinden, ob diese Idee realisierbar ist.“

Seit 2017 ist Barbara Di Ventura Professorin für biologische Signalforschung an der Fakultät für Biologie der Universität Freiburg und bei BIOSS – Centre for Biological Signalling Studies. Seit 2019 ist sie zudem Mitglied im Exzellenzcluster CIBSS – Centre for Integrative Biological Signalling Studies. Di Venturas Fokus liegt auf der Optogenetik. Diese Technik der synthetischen Biologie verwendet Licht, um Signale in Zellen zu steuern. Solche „Control-of-Function“-Anwendungen entwickelt sie gemeinsam mit ihrer Arbeitsgruppe, um die Dynamik von so genannten Transkriptionsfaktoren zu untersuchen. Das sind Proteine, die das Auslesen von Genen in der Zelle steuern. Di Venturas Anwendungen ermöglichen es, die Funktionen in Signalwegen und Netzwerken innerhalb von Zellen und Organismen besser zu verstehen. Im Exzellenzcluster CIBSS erforscht sie insbesondere den Signalweg des Transkriptionsfaktors NF-κB, der wichtige Aufgaben in der Immunantwort und der Programmierung des Zelltodes übernimmt.

Barbara Di Ventura hat Technische Informatik an der Universität La Sapienza in Rom/Italien studiert. 2007 wurde sie am European Molecular Biology Laboratory in Heidelberg im Bereich der synthetischen Biologie promoviert. Von 2007 bis 2011 war Di Ventura Postdoktorandin am Zentrum für Molekulare Biologie der Universität Heidelberg. Danach leitete sie die Arbeitsgruppe für synthetische Biologie am dortigen BioQuant-Zentrum.

Mehr Informationen zu Barbara Di Ventura und der Arbeit ihrer Gruppe

BIOSS – Centre for Biological Signalling Studies

CIBSS – Centre for Integrative Biological Signalling Studies

Computeralgorithmus erlaubt präzisere Brustchirurgie

Methode ermöglicht natürlicheres Ergebnis nach Brustkrebs-OP

Forscher des Universitätsklinikums Freiburg haben ein neues Verfahren entwickelt, mit dem das Brustvolumen vor einer Operation besser als bisher ermittelt werden kann

Bei Patientinnen, bei denen aufgrund von Brustkrebs ein Teil oder das gesamte Brustgewebe entfernt werden musste, stellt der plastisch-chirurgische Wiederaufbau der Brust einen integralen Bestandteil der Behandlung dar. Um ein möglichst natürliches Aussehen zu erreichen, sollte sich das Volumen der gesunden und der rekonstruierten Brust möglichst gleichen. Nun haben Ärzte des Universitätsklinikums Freiburg ein neues Computermodell entwickelt, mit dem das Volumen der Brüste wesentlich präziser als bisher ermittelt werden kann. Dadurch können die Ärzte die Operation besser planen, der Eingriff dauert kürzer und das Ergebnis entspricht noch mehr einem natürlichen Aussehen. Die zugrundeliegende Studie erschien am 25. November 2020 im Fachmagazin PLOS One.

„Für viele Frauen ist es ein wichtiger Schritt, nach einer Brustkrebsbehandlung wieder ihr natürliches Aussehen zurückzugewinnen. Mit der neuen Methode können wir diesen Wunsch noch besser erfüllen“, sagt PD Dr. Filip Simunovic, Oberarzt an der Klinik für Plastische und Handchirurgie des Universitätsklinikums Freiburg. Aber auch Frauen mit Fehlbildungen der Brüste oder mit Brüsten ungleicher Größe können von dem Verfahren profitieren.

Um das Volumen zu schätzen, wird ein 3D-Streifenlichtoberflächenscan der Brüste gemacht. Bisher war es allerdings lediglich ungenau möglich, aus diesem 3D-Datensatz das Volumen präzise zu berechnen, weil die hintere Begrenzung der Brust, die Brustwand, im 3D-Scan nicht erfasst wird.

Dieses Problem konnte Michael Göpper im Rahmen seiner Doktorarbeit an der Klinik für Plastische und Handchirurgie des Universitätsklinikums Freiburg lösen. Er etablierte eine Methode, welche auf statistischen Formenmodellen beruht und eine Schätzung der Brusthinterwand ermöglicht. „Mit Hilfe dieser Methode erhalten wir eine zuverlässige und präzise Messung des Brustvolumens bei unseren Patientinnen“, sagt Prof. Dr. Björn Stark, Ärztlicher Direktor der Klinik für Plastische und Handchirurgie am Universitätsklinikum Freiburg. „Mit der Veröffentlichung können jetzt plastische Chirurgen weltweit das Verfahren einsetzen und so das Behandlungsergebnis der Patientinnen verbessern“, so Stark.

Originaltitel der Studie: Improved accuracy of breast volume calculation from 3D surface imaging data using statistical shape models

DOI: 10.1371/journal.pone.0233586

Link zur Studie: https://doi.org/10.1371/journal.pone.0233586

Nachrichten aus dem Vereinigten Königreich zur Impfstoff-Zulassung

BioNTech und Pfizer erhalten für ihren Impfstoff gegen COVID-19 erste Zulassung im Vereinigten Königreich
Heute haben die beiden Unternehmen BioNTech und Pfizer für ihren mRNA-basierten COVID-19-Impfstoffkandidaten BNT162b2 eine Notfallzulassung erhalten. Die Zulassung wurde von der britischen Arzneimittel-Agentur Medicines and Healthcare products Regulatory Agency erteilt und gilt für das Vereinigte Königreich. Dazu erklärt Bundesforschungsministerin Anja Karliczek:

„Wir haben heute Morgen eine wichtige Nachricht erhalten. Der erste Impfstoff gegen COVID-19 ist in Großbritannien zugelassen worden. Es ist der mRNA-basierte Impfstoff von BioNTech und Pfizer. BioNTech wird aktuell durch das Bundesforschungsministerium zur Beschleunigung seiner Forschung und Entwicklung von Impfstoffen gegen COVID-19 mit insgesamt 375 Millionen Euro gefördert.

Bei der Entscheidung der britischen Regulierungsbehörde handelt es sich um eine sogenannte Notfallzulassung auf Grundlage des britischen Rechts. Die heutige Entscheidung ist keine Entscheidung für Europa. Aber die Genehmigungsbehörde in Großbritannien hat ebenfalls strenge Maßstäbe, wie wir wissen. Und dennoch unterscheidet sich das Recht.

Insofern kann ich sagen: Diese Notfallzulassung ist sicher ein weiteres positives Zeichen für die Entwicklung eines Impfstoffs, der in absehbarer Zeit auch in Deutschland eingesetzt werden könnte. Die Prüfungen der Europäischen Arzneimittel-Agentur über die Zulassung in Europa laufen ja bereits. Der Antrag auf Zulassung ist von BioNTech und Pfizer auch dort gestellt.

Wir sollten nun das Genehmigungsverfahren durch die Europäische Arzneimittel-Agentur in Ruhe abwarten. Die Agentur hat gestern angekündigt bis zum 29. Dezember über eine Zulassung zu entscheiden. Am 11. Dezember soll es eine öffentliche Anhörung geben.

Es ist mir wichtig zu sagen: Der Impfstoff muss sicher und wirksam sein. Dies muss für Europa und damit auch für Deutschland in dem hier üblichen Verfahren festgestellt werden. Wir haben immer betont, dass auch im Fall eines COVID-19-Impfstoffes keine gesonderten Abkürzungen vorgenommen werden. An den üblichen Anforderungen an einen Impfstoff werden keine Abstriche gemacht.

Nur so können wir das Vertrauen in der Bevölkerung in den Impfstoff weiter ausbauen. Die Sicherheit und Wirksamkeit des Impfstoffs muss gewährleistet sein und ich bin mir sicher: Sie wird gewährleistet sein!“

Hintergrund:

Zur Beschleunigung der Impfstoffentwicklung gegen SARS-CoV-2 ist vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) ein nationales Sonderprogramm aufgelegt werden. Hiermit sowie mit weiteren Fördermaßnahmen zur Erforschung von COVID-19 reagierte das BMBF unmittelbar auf die Fragestellungen des Umgangs und der Bekämpfung von COVID-19.

Mit dem Sonderprogramm werden gefördert:

  • die klinische Impfstoffentwicklung der Phasen I-III,
  • die frühzeitige Ausweitung der Produktions- und Abfüllkapazitäten,
  • die Ausweitung der Kapazitäten der klinischen Prüfung in Deutschland.

Geförderte Projekte, Fördersummen (gerundet)

Der Screenshot zeigt die von der Bundesregierung geförderten Covid-19-Impfstoff-Projekte

Wissenschaftsorganisationen zur Coronavirus-Pandemie: Die Situation ist ernst

Gemeinsame Erklärung der Präsidentin der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Präsidenten von Fraunhofer-Gesellschaft, Helmholtz-Gemeinschaft, Leibniz-Gemeinschaft, Max-Planck-Gesellschaft und Nationaler Akademie der Wissenschaften Leopoldina

Das Foto zeigt das Corona-Virus
Foto von CDC von Pexels

Seit einigen Wochen ist ein dramatischer Anstieg der Coronavirus-Infektionen in Europa zu verzeichnen, der inzwischen auch Deutschland erreicht hat. Dieser ist wegen der hohen Fallzahlen an vielen Orten nicht mehr kontrollierbar und kann eine beträchtliche Zahl von Behandlungsbedürftigen in den Krankenhäusern und einen deutlichen Anstieg der Sterbezahlen in Deutschland zur Folge haben. Um dies noch zu verhindern, fordern die Präsidentin und die Präsidenten von sechs Wissenschaftsorganisationen klare Entscheidungen, die schnell umgesetzt werden. Aktuell könne die Ausbreitung des Virus in vielen Regionen von den Gesundheitsämtern aus Kapazitätsgründen nicht mehr adäquat nachverfolgt werden. Um diese Nachverfolgung wieder zu ermöglichen, müssten Kontakte, die potentiell zu einer Infektion führen, systematisch reduziert werden. Je früher und konsequenter alle Kontakte, die ohne die aktuell geltenden Hygiene- und Vorsichtsmaßnahmen stattfinden, eingeschränkt würden, desto kürzer könnten diese Beschränkungen sein.

Wichtig sei, deutlich, schnell und nachhaltig zu reagieren. Es sei notwendig, Kontakte ohne Vorsichtsmaßnahmen auf ein Viertel zu reduzieren und dies in allen Bundesländern sowie in allen Landkreisen und Städten nach bundesweit einheitlichen Regeln durchzuführen. Je früher diese konsequente Reduktion von Kontakten ohne Vorsichtsmaßnahmen erfolge, desto kürzer könne diese andauern und desto weniger psychische, soziale und wirtschaftliche Kollateralschäden würden verursacht. Mit einer drastischen Reduktion der Kontakte ohne Vorsichtsmaßnahmen eines jeden Einzelnen auf ein Viertel könne die Pandemie eingedämmt werden.

Ziel sei es, die Fallzahlen so weit zu senken, dass die Gesundheitsämter die Kontaktnachverfolgung wieder vollständig durchführen können. Sobald dies möglich ist, könnten die Beschränkungen vorsichtig gelockert werden, ohne dass unmittelbar eine erneute Pandemiewelle drohe. Das müsse aber bereits jetzt vorbereitet werden. Nach etwa drei Wochen deutlicher Reduktion von Kontakten ohne Vorsichtsmaßnahmen werde es entscheidend sein, die bekannten Infektionsschutzmaßnahmen (AHA+L+A) bundesweit einheitlich und konsequent durchzusetzen, um die dann erreichte niedrige Fallzahl zu halten. Dabei sollten Risikogruppen durch gezielte Maßnahmen konsequent geschützt, die Kommunikation der Vorsichtsmaßnahmen verbessert und die Hygienekonzepte geschärft und kontrolliert werden.

Langzeitrisiken von Implantaten

Metalle aus Endoprothesen können sich im Knochen ablagern

Synchrotron-Röntgenfluoreszenzanalysen
von humanen Knochen- und Knochenmark-Biopsien 

Berlin, 11.08.2020 Eine Forschungsgruppe der Charité – Universitätsmedizin Berlin konnte mithilfe hochkomplexer Analysemethoden detailliert nachverfolgen, wie verschiedene Metalle aus Endoprothesen freigesetzt werden und sich im umliegenden Knochengewebe anreichern. Auch unabhängig von mechanischer Belastung kann es – anders als bisher angenommen – aus verschiedenen Prothesenteilen zu einer ständigen Freisetzung von Metallen kommen. Die im Fachmagazin Advanced Science veröffentlichen Erkenntnisse sollen helfen, die Materialien von Implantaten zu optimieren und ihre Sicherheit zu erhöhen.

Bevor man sich eine Prothese einsetzen lässt, sollte man überprüfen, ob es Alternativen zur OP gibt. Zum Beispiel die Biokinematik.

Der Arzt Claus Becker aus Badenweiler praktiziert die Biokinematik seit vielen Jahren. In Bad Krozingen gibt es die Klinik für Biokinematik.

Moderne Endoprothesen sollen Patienten mit chronisch degenerativen Gelenkerkrankungen eine schmerzfreie Beweglichkeit ermöglichen und so ihre Lebensqualität deutlich verbessern. Für solchen künstlichen Gelenkersatz werden Materialien mit verschiedenen Metallverbindungen verwendet, um eine mechanische Stabilität des Implantats möglichst lange zu gewährleisten. Entscheidend für den langfristigen Erfolg einer Endoprothese ist jedoch eine stabile Integration in das umliegende Knochengewebe. Frühere Arbeiten zur Implantatstabilität belegten, dass es an den Reibungsflächen, so genannte Gleitpaarungen, zu einem Abrieb von Metallen kommen kann. Diese Metallrückstände können zu einer Rückbildung des umliegenden Knochens, der sogenannten Osteolyse, und somit zu einer frühzeitigen Lockerung der Implantate führen. Allerdings wurde eine mögliche ständige Freisetzung von Metallen aus anderen Teilen der Prothese bisher außer Acht gelassen.

Die Forschungsgruppe um Dr. Sven Geißler am Julius-Wolff-Institut für Biomechanik und Muskuloskeletale Regeneration der Charité hat nun die räumliche Verteilung und lokale Toxikokinetik von freigesetzten metallischen Verschleiß- und Korrosionsprodukten im umliegenden Knochengewebe unter Verwendung eines einzigartigen Synchrotron-basierten Röntgenfluoreszenz-Bildgebungssystems detailliert untersucht. „Mit unserer Arbeit zeigen wir zum ersten Mal, dass sowohl partikuläre als auch gelöste Metalle, die aus Endoprothesen stammen, im umliegenden Knochen und im Knochenmark in überphysiologischen Konzentrationen vorhanden sind“, sagt Dr. Geißler. „Die kollagenhaltige Schicht, die nach der Operation das Implantat verkapselt, isoliert dieses somit nicht in dem Ausmaß vom menschlichen Gewebe wie bisher angenommen.“

Die Forschenden untersuchten hierfür winzige Knochenproben von 14 Patienten, bei denen ein Hüft- oder Kniegelenk ersetzt werden musste. Sie nutzten hierfür die Röntgenfluoreszenzanalyse, um die elementare Zusammensetzung der Proben qualitativ und quantitativ zu bestimmen. Diese Technik gestattet einzigartige Einblicke hinsichtlich Konzentration, Verteilung, Lokalisierung und Anreicherung von metallischen Abbauprodukten wie Kobalt, Chrom oder Titan im angrenzenden Knochen und im Knochenmark. Die notwendige sehr reine und fokussierte Röntgenstrahlung hoher Intensität wurde durch die Synchrotronstrahlungsquelle des Teilchenbeschleunigers der European Synchrotron Radiation Facility (ESRF) im französischen Grenoble erreicht und erlaubt eine weltweit einmalige Ortsauflösung von bis zu 30 Nanometer. „Im Rahmen unserer Arbeit bringen wir also eine klinisch hochrelevante Fragestellung und einen hochkomplexen experimentellen Aufbau zusammen“, erklärt Dr. Janosch Schoon, Erstautor der Studie.

„Unsere Studie leistet einen wesentlichen Betrag zur Verbesserung der Risiko-Nutzen-Bewertung von Medizinprodukten und zeigt, dass diese nicht nur Biokompatibilitätstests von Ausgangsmaterialien, sondern auch von deren späteren Verschleiß- und Korrosionsprodukten umfassen sollte. Auf diese Weise tragen die aktuellen Daten entscheidend dazu bei, die Implantatsicherheit auf dem höchstmöglichen Niveau zu halten“, resümiert Dr. Geißler. Basierend auf den Erkenntnissen sollen in nachfolgenden Untersuchungen die biologischen Konsequenzen der Metallfreisetzung im Knochen und Knochenmark erforscht werden. Zugleich werden neue Ansätze entwickelt, die eine zuverlässige präklinische Testung von Implantatmaterialien in humanen Zellen und im Labor gezüchteten Geweben erlauben. 

*Schoon J et al. Metal-specific biomaterial accumulation in human peri-implant bone and bone marrow. Adv Sci (2020), DOI: 10.1002/advs.202000412 

Originalpublikation
Julius Wolff Institut für Biomechanik und Muskuloskeletale Regeneration

Fortschritte in Diagnostik und Therapie: Geriatrisches Assessment entwickelt sich weiter

Neue Verfahren in Diagnostik und Therapie

Das Foto zeigt Prof. med. Andreas Stuck
Keynote-Lecture: „Geriatrisches Assessment 2020“
Prof. med. Andreas Stuck
Foto: Inselspital Bern

Das geriatrische Assessment von 2020 ist nicht mehr das geriatrische Assessment von einst. Technologische Innovationen, die Einführung schweregradabhängiger Fallpauschalen, Fortschritte in Diagnostik und Therapie, das neue Konzept des Frailty-Syndroms: All dies hat dazu geführt, dass sich das geriatrische Assessment grundlegend verändert hat. Professor Andreas Stuck hat in den 1990-er Jahren eine viel beachtete Metaanalyse zur Wirksamkeit des geriatrischen Assessments publiziert, und in den vergangenen Jahren in Praxis, Lehre und Forschung neue Formen des geriatrischen Assessments evaluiert. In seiner Keynote „Geriatrisches Assessment 2020“ im Rahmen der geriatrisch-gerontologischen Online-Konferenz vom 3. bis 5. September wird Stuck das Heute und Morgen zu diesem Themenschwerpunkt beleuchten.

Es geht unter anderem um technologische Innovationen: Herkömmliche geriatrische Assessmentverfahren basieren auf klinischer Beobachtung und manueller Auswertung. So setzen zum Beispiel Assessmentverfahren zur Erfassung der Mobilität wie der Tinetti-Test oder der „Timed Get Up and Go“-Test die heutigen technologischen Möglichkeiten nicht ein. „Dabei würden es Sensoren ermöglichen, Bewegungsabläufe qualitativ und quantitativ abzubilden“, sagt Andreas Stuck. Auch andere Assessmentverfahren wie der Flüsterzahlentest stammen aus dem letzten Jahrhundert, obschon es auch hier Alternativen geben würde. Es stellt sich also die Frage, ob die herkömmlichen Verfahren ausgedient haben.

Neue Verfahren in Diagnostik und Therapie

Exemplarisch sind die Vorgaben, welche für die Dokumentation der geriatrisch frührehabilitativen Komplexbehandlung gelten. Diese geben vor, in welchem Zeitraum welche Elemente des geriatrischen Assessments dokumentiert sein müssen. Hat dies das geriatrische Assessment verändert? Und vor allem: Führt dies zu einer besseren geriatrischen Versorgung älterer Patientinnen und Patienten? In den vergangenen 20 Jahren haben sich die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten verändert. So ist die Sarkopenie kürzlich als Diagnose in die ICD-Klassifikation aufgenommen worden, und es gibt heute wirksame Interventionen für betroffene Patienten. Bei anderen Diagnosen, wie Delir oder Gangunsicherheit, haben sich die diagnostischen und therapeutischen Verfahren in den vergangenen Jahren ebenfalls wesentlich verbessert. Deshalb wird in der Keynote auch die kritische Frage gestellt: Sind die herkömmlichen geriatrischen Assessmentverfahren noch geeignet für die Aufdeckung dieser Krankheiten?

Das Frailty-Syndrom

Im Jahr 2001 hat die Geriaterin und Epidemiologin Linda Fried erstmals den „Frailty-Phänotyp“ beschrieben, primär als Grundlage für die Erforschung pathopyhsiologischer Abläufe im Alter. Unterdessen hat „Frailty“ auch Einzug in die Klinik gehalten. So wird die „Frailty“ heute zum Teil als Kriterium für medizinische Entscheidungen eingesetzt. Das herkömmliche geriatrische Assessment enthält jedoch keine „Frailty“-Dimension. Muss also das multidimensionale Assessment um eine Dimension ergänzt werden?

Das geriatrische Assessment von morgen

Auch ausserhalb der Geriatrie hat das geriatrische Assessment in den vergangenen Jahren zunehmend Beachtung gefunden. In der Kardiologie und der Traumatologie, und unterdessen in vielen anderen Disziplinen wurde der Mehrwert dieser geriatrischen Abklärungsmethode erkannt. Das geriatrische Assessment ist darum heute nicht mehr ausschliesslich eine Spezialabklärung bei ausgewählten Patientinnen und Patienten in der Geriatrie, sondern Teil der Basisabklärung anderer Disziplinen. Hier ist noch Entwicklungsarbeit notwendig, denn ein geriatrisches Assessment für die Anwendung in nichtgeriatrischen Settings muss in kurzer Zeit durchführbar und trotzdem ausreichend valide sein. 
Zeigt das geriatrische Assessment bei einem älteren Patienten oder einer älteren Patientin eine komplexe Problematik, dann wird auch in Zukunft die Geriatrie gefragt sein. Liegt doch die Kernkompetenz der Geriatrie in der Interpretation und der Synthese der geriatrischen Assessmentbefunde und der Umsetzung eines individuellen, interprofessionellen geriatrischen Managements.

Zur Person

Prof. med. Andreas Stuck ist Chefarzt und Klinikdirektor der Geriatrischen Universitätsklinik in Bern an den drei Standorten Inselspital, Spital Tiefenau und Spital Belp. Unter seiner Gesamtleitung führt die Klinik eine akutgeriatrische Bettenstation, eine stationäre Geriatrische Rehabilitation, ein Ambulatorium sowie eine Kooperation mit der Orthopädischen Universitätsklinik. In Lehre und Forschung sind seine Spezialgebiete das geriatrische Assessment in den verschiedenen Settings Akutspital, Rehabilitation, Alters- und Pflegeheim sowie in der Hausarztpraxis. Dazu hat er Lehrmittel entwickelt, Forschungsprojekte durchgeführt, und gilt national und international als einer der führenden Experten auf diesem Gebiet. Zudem ist Andreas Stuck amtierender Präsident der Schweizerischen Fachgesellschaft für Geriatrie (SFGG).

Termin:

Prof. med. Andreas Stuck
Keynote-Lecture: „Geriatrisches Assessment 2020“
Geriatrisch-gerontologische Online-Konferenz 
Donnerstag, 3. September 2020
16:30 bis 17:15 Uhr

Einstein Stiftung initiiert Soforthilfeprogramm zur Unterstützung der medizinischen Versorgung in Berlin

„Einstein Student Support for Corona Medical Emergency“

Die Einstein Stiftung Berlin fördert in einem Soforthilfeprogramm Studierende, die vorübergehend in der medizinischen Grundversorgung der Charité – Universitätsmedizin Berlin zum Einsatz kommen sollen. Hierfür stellt die Einstein Stiftung der Charité 300.000 Euro im Rahmen des Soforthilfeprogramms „Einstein Student Support for Corona Medical Emergency“ zur Verfügung. Während der kommenden drei Monate können rund 100 Studierende jeweils mit 1.000 Euro pro Monat vergütet werden. Hintergrund ist der durch die Corona-Pandemie prognostizierte Mangel an Pflegekräften.

„Mit dieser Initiative will die Einstein Stiftung einen Beitrag dazu leisten, dass die Charité den bevorstehenden medizinischen und pflegerischen Herausforderungen möglichst gut gerecht werden kann. Durch die Unterstützung von Studierenden soll zudem das wichtige gesellschaftliche Engagement junger Menschen honoriert und gefördert werden“, sagt der Vorstandsvorsitzende der Einstein Stiftung, Günter Stock.

„Wir begrüßen diese Initiative außerordentlich. Denn in den nächsten Tagen und Wochen werden wir eine große Anzahl von Patientinnen und Patienten behandeln müssen. Hier können Studierende der Medizin oder der Pflege einen wichtigen Beitrag leisten. Viele von ihnen haben vor dem Studium bereits pflegerische Erfahrungen gesammelt oder eine entsprechende Ausbildung absolviert“, sagt Heyo K. Kroemer, der Vorstandsvorsitzende der Charité.

Am Soforthilfeprogramm interessierte Studierende der Charité oder der Alice Salomon Hochschule können sich direkt an die Charité wenden unter

stud-freiwillige(at)charite.de. In der Kurzbewerbung sollten die Immatrikulationsbescheinigung sowie entsprechende Nachweise der pflegerischen Erfahrung enthalten sein. Die Studierenden werden nach Eignung ausgewählt und eingesetzt. Sie können die Dauer ihres Einsatzes und die tägliche Arbeitszeit nach Verfügbarkeit selbst bestimmen.

Immunschub gegen das Coronavirus

Impfstoff-Kandidat wird in Deutschland auf seine Wirksamkeit bei Infektionen mit dem neuen Coronavirus getestet

Das Foto zeigt eine Spritze und ein Serum. 
Foto von cottonbro von Pexels

Der Verlauf der Corona-Pandemie wird stark davon abhängen, wie schnell Medikamente oder Impfstoffe gegen das SARS-Co-Virus 2 entwickelt werden können. Forschende wollen nun in mindestens einer Phase-III-Studie untersuchen, ob der ursprünglich von Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts für Infektionsbiologie gegen Tuberkulose entwickelter Impfstoff-Kandidat VPM1002 auch bei einer Infektion mit SARS-CoV-2 wirksam ist. Die großangelegte Studie soll an mehreren Kliniken in Deutschland durchgeführt werden und wird ältere Menschen sowie Beschäftigte im Gesundheitswesen umfassen, die besonders von der Erkrankung bedroht sind. VPM1002 könnte so helfen, die Zeit bis zu einem Impfstoff zu überbrücken, der spezifisch gegen SARS-Co-Virus 2 wirksam ist.

VPM1002 basiert auf einem Anfang des 20 Jahrhunderts entwickelten Impfstoff namens BCG. Studien an Mäusen zeigen, dass der BCG-Impfstoff nicht nur vor Tuberkulose, sondern auch vor Virusinfektionen der Atemwege schützen kann. An Grippe erkrankte Mäuse haben demzufolge weniger Influenza-A-Viren im Blut, wenn sie zuvor mit BCG geimpft wurden. Die Tiere wiesen dadurch weniger Schädigungen der Lungen auf. Eine Impfung mit BCG erhöht weiteren Studien zufolge auch die Resistenz der Tiere gegenüber anderen Viren wie zum Beispiel Herpesviren vom Typ 1 und 2. Aus den Niederlanden und Großbritannien gibt es zudem Hinweise darauf, dass BGC als sogenannter Bystander-Impfstoff gegen das neue Corona-Virus helfen könnte. Offenbar aktiviert eine Impfung mit BCG auch das Immunsystem gegen eine Virusinfektion. Dadurch verringert der Impfstoff die Gefahr schwerer Krankheitsverläufe und senkt so die Todesrate.

VPM1002 enthält abgeschwächte Tuberkulose-ähnliche Bakterien. Diese sind genetisch so verändert, dass Immunzellen sie besser erkennen können. Der ursprünglich am Berliner Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie von der Gruppe um Stefan H.E. Kaufmann entwickelte Impfstoff-Kandidat schützt dadurch wirksamer vor Tuberkulose als der alte Impfstoff und soll bei Neugeborenen und zur Auffrischung einer Impfung bei Erwachsenen eingesetzt werden. Neuste Studien haben ergeben, dass VPM1002 auch bei Krebserkrankungen wirksam sein und eine Rückkehr von Blasentumoren verhindern kann.

VPM1002 ist sicher und wirksamer als Standard-Impfung

Wissenschaftler haben diese Weiterentwicklung des BCG-Impfstoffs in einer Reihe von Studien an Mäusen sowie mehreren klinischen Studien untersucht. So hat 2018 eine Phase-II-Studie bestätigt, dass VPM1002 von Neugeborenen gut vertragen wird und wirksam ist. Derzeit wird der Impfstoff in einer weiteren Phase-III-Studie an erwachsenen Probanden in Indien getestet. Sie soll Mitte 2020 abgeschlossen sein. „Die bisherigen Ergebnisse zeigen, dass eine Impfung mit VPM1002 sicher und wirksamer als eine Standart-Impfung mit BCG ist“, sagt Stefan H.E. Kaufmann.

Das höhere Sicherheitsprofil von VPM1002 und die verbesserte Wirksamkeit lassen hoffen, dass der neue Impfstoff auch die Symptome einer Infektion mit dem SARS-Co-Virus 2 besser mildern kann als der BCG-Impfstoff. „Hinzu kommt, dass VPM1002 mithilfe modernster Produktionsmethoden hergestellt werden kann“, sagt Adar C. Poonawalla der Hersteller und Geschäftsführer von Serum Institute of India.“ So könnten innerhalb kürzester Zeit Millionen von Dosen bereitgestellt werden.“

Gespräche mit Behörden

Die beteiligten Partner, Vakzine Projekt Management (VPM) und das Serum Institute of India, haben bereits vielversprechende Gespräche mit den Behörden geführt, um eine Phase-III-Studie in Deutschland mit VPM1002 durchzuführen und die Wirksamkeit des Impfstoffs bei älteren Menschen und Beschäftigen im Gesundheitswesen zu untersuchen. „Diese Bevölkerungsgruppen sind besonders von der aktuellen Pandemie betroffen,“ so Leander Grode Geschäftsführer der VPM, „und könnten daher besonders von einer Impfung mit VPM1002 profitieren“. Bei einem positiven Ergebnis könnte VPM1002 dazu beitragen die Gesundheitssysteme zu entlasten, bis ein Impfstoff zur Verfügung steht, der spezifisch gegen SARS-CoV-2 wirksam ist.

Die Max-Planck-Gesellschaft hat die Lizenz für den Impfstoff 2004 an das Unternehmen Vakzine Projekt Management (VPM) vergeben. Ab 2012 entwickelte die Firma den Impfstoff zusammen mit dem Serum Institute of India weiter, einem der größten Impfstoffhersteller weltweit. Das Unternehmen hat die VPM mittlerweile mehrheitlich übernommen

Körpereigenes Doping fürs Gehirn

Wissenschaftler decken den Wirkungskreislauf von Epo in Nervenzellen auf

 Querschnitt durch den Hippocampus einer Maus. Nach der Gabe von Erythropoietin weisen die Tiere mehr Nervenzellen in dieser für Lernen und Gedächtnis zentralen Gehirnregion auf.
© MPI f. Psychiatrie
Querschnitt durch den Hippocampus einer Maus. Nach
der Gabe von Erythropoietin weisen die Tiere mehr
Nervenzellen in dieser für Lernen und Gedächtnis
zentralen Gehirnregion auf.
© MPI f. Psychiatrie

Erythropoietin, kurz Epo, ist ein berüchtigtes Dopingmittel. Es fördert die Bildung von roten Blutkörperchen und steigert – wie man bislang glaubte – auf diese Weise die körperliche Leistungsfähigkeit. Der Wachstumsfaktor schützt und regeneriert aber auch Nervenzellen im Gehirn. Forscher vom Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin in Göttingen haben nun herausgefunden, wie Epo dort wirkt. Sie haben entdeckt, dass geistige Herausforderungen in den Nervenzellen des Gehirns einen leichten Sauerstoffmangel (von den Forschern ‚funktionelle Hypoxie‘ genannt) auslösen. Dies regt die Produktion von Epo und seinen Rezeptoren in den aktiven Nervenzellen an. Dadurch werden aus benachbarten Vorläuferzellen neue Nervenzellen gebildet, und die Zellen verbinden sich effektiver untereinander.

Erythropoietin ist ein Wachstumsfaktor, der unter anderem die Produktion von roten Blutkörperchen anregt. So fördert es bei Anämie-Patienten die Blutbildung. Darüber hinaus wird der hochpotente Wirkstoff auch zur illegalen Leistungssteigerung im Sport eingesetzt.

 „Die Gabe von Epo verbessert die Regeneration nach einem Schlaganfall (genannt ‚Neuroprotektion‘ und ‚Neuroregeneration‘) und verringert so die Schäden im Gehirn. Patienten mit Störungen der geistigen Leistungsfähigkeit im Rahmen von Schizophrenie, Depression, Bipolarer Erkrankung oder Multipler Sklerose, die wir mit Epo behandelt haben, sind zudem deutlich leistungsfähiger“, sagt Hannelore Ehrenreich vom Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin. Die Wissenschaftlerin erforscht zusammen mit ihren Kollegen seit Jahren die Rolle von Epo im Gehirn.

Mehr Nervenzellen

Ehrenreich und ihr Team haben nun in Tierversuchen an Mäusen systematisch untersucht, welcher körpereigene Mechanismus der höheren Leistungsfähigkeit des Gehirns nach Epo zugrunde liegt. Ihre Versuchsergebnisse zeigen, dass erwachsene Mäuse nach der Gabe des Wachstumsfaktors 20 Prozent mehr Nervenzellen in der Pyramidenschicht des Hippocampus, einer für Lernen und Gedächtnis entscheidenden Hirnregion, bilden. „Außerdem vernetzen sich die Nervenzellen besser und schneller mit anderen Nervenzellen und tauschen dadurch effizienter Signale aus“, sagt Ehrenreich.

Die Forscher ließen die Mäuse auf Laufrädern trainieren, deren Speichen in unregelmäßigen Abständen angeordnet waren. „Das Laufen in diesen Rädern erfordert das Erlernen komplexer Bewegungsabläufe, die für das Gehirn eine besondere Herausforderung sind“, erklärt Ehrenreich. Die Resultate belegen, dass die Mäuse nach einer Epo-Behandlung die für die Laufräder erforderlichen Bewegungen schneller lernen. Die Nager sind darüber hinaus deutlich belastbarer.

Höherer Sauerstoffbedarf

Den Göttinger Wissenschaftlern war nun das Verständnis der Mechanismen wichtig, welche diese potenten Epo Effekte erklären. Sie wollten der physiologischen Bedeutung des Epo-Systems im Gehirn auf die Spur kommen. In einer Reihe gezielter Experimente konnten sie belegen, dass Nervenzellen beim Lernen komplexer motorischer Aufgaben mehr Sauerstoff benötigen, als ihnen normalerweise zur Verfügung steht. Der dadurch entstehende leichte Sauerstoffmangel (relative Hypoxie) liefert in den Nervenzellen das Signal zur vermehrten Epo-Produktion. „Es handelt sich hierbei um einen selbstverstärkenden Prozess: Geistige Anstrengung führt zu leichter Hypoxie, von uns als ‚funktionelle Hypoxie‘ bezeichnet, der wiederum die Produktion von Epo und seinen Rezeptoren in den entsprechend aktiven Nervenzellen anregt. Epo steigert anschließend die Aktivität dieser Nervenzellen, bewirkt die Bildung neuer Nervenzellen aus benachbarten Vorläuferzellen, und erhöht deren komplexe Vernetzung, um auf diese Weise zu der bei Mensch und Maus messbaren Verbesserung der geistigen Leistungsfähigkeit zu führen“, erklärt Ehrenreich.

Der selbstverstärkende Zyklus aus geistiger Herausforderung, aktivitätsinduzierter Hypoxie und Epo-Produktion kann auf unterschiedliche Weise beeinflusst werden: „Die geistige Leistungsfähigkeit lässt sich durch konsequentes Lernen und geistiges Training über die Epo-Produktion der beteiligten Nervenzellen steigern. Ein ähnlicher Effekt wird bei Kranken durch die Verabreichung von zusätzlichem Epo erzielt“, sagt Ehrenreich.